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Digital In Arbeit

Die Menschenwürde auf dem Prüfstand

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Ein Diktat der Wirtschaft oder ein Mehr an persönlicher Freiheit? Die Katholisch-Soziale Tagung 1985 überprüfte die Vor- und Nachteile flexibler Arbeitszeitregelungen.

Zwei Krisenphänomene sind für die heutige Industriegesellschaft charakteristisch:

Das erste betrifft ihre innere Verfaßtheit; an die Seite des alten Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit ist ein neuer zwischen Arbeitbesitzenden und Arbeitslosen getreten.

Das zweite Krisenphänomen liegt in der Spannung zwischen Industriegesellschaft und Alternativkultur; neues ökologisches Bewußtsein, die sich zuspitzende Dritte-Welt-Problematik und der Ruf nach alternativen Lebensformen führten herkömmliche Strukturen und Mechanismen der Industriegesellschaft in eine Legitimationskrise.

Die Forderung nach Flexibilisierung der Arbeit betrifft beide Krisenphänomene. Sie verspricht Abbau der Arbeitslosigkeit und Spielräume für alternative Lebensgestaltung. Auf den Zusammenhang zwischen Arbeit und Menschenwürde wies die Sozialenzyklika „Laborem exercens” eindringlich hin. Dabei müssen drei Grundfunktionen der Arbeit unterschieden werden:

In ihrer sozialen Funktion befriedigt Arbeit das System der Bedürfnisse und deckt Gemeinwohlbedarf. Durch ihre Erwerbsfunktion sichert sie den Eigenbedarf der Arbeitenden. Durch ihre personale Funktion integriert, bildet und entfaltet Arbeit.

In allen drei Funktionen ist Menschenwürde tangiert. Dabei sind diese drei Funktionen teilweise voneinander abtrennbar: Es gibt sozial wertvolle und personal entfaltende Arbeit, die nicht Erwerbsarbeit ist. Hierher gehört die vielfältige Arbeit im sogenannten autonomen Bereich.

Für viele Menschen läßt sich das Menschenrecht auf Arbeit jedoch nur verwirklichen als das Recht auf Erwerbsarbeit. Für diese Menschen verletzt Arbeitslosigkeit die Menschenwürde, blok-kiert Lebenschancen und führt in ein Sinndefizit.

Arbeitslosigkeit als Sozialnot stellt eine zentrale Herausforderung dar für den Humanitätsanspruch unseres Gesellschaftssystems. Man spricht von Verteilung der Arbeit als Gerechtigkeitsforderung. Dabei stehen zwei Therapien im Vordergrund: Verkürzung der Normalarbeitszeit als Wochen-, Jahres- oder Lebensarbeitszeit und Flexibilisierung der individuellen Arbeitszeit.

Befürworter der Flexibilisierung verweisen auf folgende Vorteile: Ein breites Angebot individueller Teilzeitverträge, Job-Sharing, flexiblere Gestaltung der Wochen-, Jahres- und Lebensarbeitszeit geben Arbeitnehmern die Chance, autonom die Arbeitszeit zu wählen, die den individuellen Bedürfnissen, Wünschen und Lebenslagen optimal entspricht.

Arbeitszeitautonomie führt zur individuell maßgeschneiderten Erwerbsarbeit und zugleich zur Versöhnung von Erwerbsarbeit und Arbeit im autonomen Bereich.

Für Arbeitgeber könnte Flexibilisierung andere Vorteile bringen: Neue Möglichkeiten der Abkoppelung von Arbeits- und Betriebszeit, Intensivierung der Arbeitsleistung, Verringerung der Fehlzeiten etc.

Gegner der Flexibilisierung weisen auf Nachteile hin: Flexibilisierung untergräbt die Garantiefunktion der Normalarbeitszeit. Die diversen Formen sind arbeitsrechtlich und kollektivvertraglich unzureichend geregelt. Die Freiwilligkeit der Verträge ist nur vermutet und könnte in faktischen Zwang zur Teilzeitarbeit umschlagen.

Flexibilisierung auf breiter

Ebene bewirkt Entsolidarisie-rung der Arbeitnehmer (Interessengegensätze zwischen Vollzeit-und Teilzeitarbeitnehmern), Preisgabe der Mitbestimmungsziele, erhöhte Ausbeutung und Eliminierung betriebsinterner Kommunikation durch Wegfall von Pausen etc. Außerdem sei der Effekt auf dem Arbeitsmarkt nur geringfügig.

Vorteile und Nachteile zeigen die Ambivalenz zunehmender Arbeitszeitflexibilisierung. Arbeitszeitautonomie muß durch flankierende Maßnahmen human gestaltet werden.

Aufwertung von Familie

Die Wahrung der Freiwilligkeit von Verträgen wird es nötig machen, daß parallel zur Ausweitung der Flexibilisierung auch die Obergrenzen der Wochen-, Jahres- und/oder Lebensarbeitszeit entsprechend der Arbeitsmarktlage gesenkt werden.

Unter solchen flankierenden Voraussetzungen kann Flexibilisierung auf breiter Ebene neue Perspektiven in Sicht bringen: Erwerbsarbeit und autonomer Bereich können aufeinander abgestimmt werden.

Zweifellos wird der wachsende autonome Bereich auch ein Arbeitsbereich sein, in welchem eine zweite, alternative Wirtschaft sowie ein zweites System sozialer Sicherheit entsteht. Die Entwicklung könnte zu einer beträchtlichen funktionalen Aufwertung von Familie, Nachbarschaft und sonstiger Gemeinschaft führen. Insofern zeigen sich Chancen zu mehr Freiheit, mehr Solidarität und Subsidiarität.

Der Autor ist Professor für Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Der Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Referats zum Thema „Flexible Arbeit — Chancen und Gefahren für die Menschenwürde” bei der katholisch-sozialen Tagung 1985 in Wien.

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