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Die menschliche Würde retten

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„Immer wieder mußte ich über menschliche Leichname steigen", schreibt der italienische Schriftsteller Curzio Malaparte, der zu Beginn des Jahres 1942 das Warschauer Ghetto besuchte. Die Toten lagen verlassen im Schnee, bis die Totengräber sie wegtrugen. „Da die Sterblichkeit sehr hoch war und es nur wenige Wagen gab, war es nicht möglich, die Leichen gleich wegzuschaffen", vermerkt Malaparte lapidar.

Es kamen auch andere Besucher. In einem Bericht der polnischen Exilregierung in London vom Mai 1942 heißt es, Reisebusse mit deutschen Soldaten seien durch das Ghetto gefahren wie durch einen zoologischen Garten. Die Busse trugen die Aufschrift „Kraft durch Freude", das Motto der nationalsozialistischen Freizeitbewegung.

Das war zu einem Zeitpunkt, ehe die planmäßige Liquidierung des im Jahr 1940 von der deutschen Besatzungsmacht errichteten Ghettos begann. 400.000 Juden waren dort zusammengepfercht worden, und ab dem Sommer 1942 wurden täglich rund 10.000 Menschen in das Vernichtungslager Treblinka deportiert.

Und die Welt schaute zu. Niemand wollte wahrhaben, was sich hier abspielte. Als sich die Ghettobewohner in hoffnungsloser Verzweiflung zu wehren begannen, gab es niemanden, der ihnen half. Der Endkampf begann vor 50 Jahren, am 19. April 1943

und dauerte fast vier Wochen. Einer der Kämpfer, „Jurek" Wilner, formulierte das Ziel dieses Opfers: „Wir wollen nicht unser Leben retten. Keiner von uns kommt mit dem Leben davon. Wir wollen die menschliche Würde retten."

„Das deutsche Volk hat Europa mit dem Kainsmal gezeichnet", stellt der polnische Autor Andrzej Szczypiorski in einem Essay zum 50. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto fest. Szczypiorski erzählt, wie er, gar nicht heldenhaft, sondern zitternd vor Angst, damals als junger Mann einen Juden auf dem Dachboden seines Hauses versteckte.

Der Pole Szczypiorski versucht aber tiefer einzudringen in die Frage nach der Schuld, denn das Dritte Reich ist nicht aus dem Nichts aufgetaucht. Szczypiorski erinnert daran, daß das christliche Europa jahrhundertelang seine „schmutzigen antisemitischen Träume" geträumt hatte, und er nennt auch die Folgen einer „tiefen geistigen Krise" beim Namen, die dieses Europa begleitet: Passivität, Betäubung, intellektuelle Leere, moralische Armut und politische Kleinkrämerei.

Seit dem Holokaust müsse jeder Christ bis zu seiner letzten Stunde nach einer Antwort auf die Frage suchen, ob es uns nicht an Menschlichkeit, Liebe und Mitgefühl gefehlt habe.

Und das gilt nicht nur für die Vergangenheit...

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