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Die „Midlife”-Krise der Regierung Thatcher

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Wenn es nach den letzten Meinungsumfragen ginge, dann wäre es für Labourführer Neil Kinnock Zeit, sich für den Einzug in die Downing Street fertigzumachen. Die Arbeiterpartei führt konstant, während sich die Mitteallianz und die Konservativen in den nächsten Plazierungen ablösen.

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Wenn es nach den letzten Meinungsumfragen ginge, dann wäre es für Labourführer Neil Kinnock Zeit, sich für den Einzug in die Downing Street fertigzumachen. Die Arbeiterpartei führt konstant, während sich die Mitteallianz und die Konservativen in den nächsten Plazierungen ablösen.

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Von Panikstimmung ist indes im Hauptquartier der Konservativen nichts zu spüren: Abklingen der Popularität in der Mitte einer Regierungsperiode wäre eine geradezu normale, zyklisch wiederkehrende und damit eingeplante Erscheinung, bis zu den nächsten Parlamentswahlen noch zwei bis drei Jahre; genug Zeit, um Versprechen einzulösen und die in letzter Zeit hartnäckig ausbleibenden Erfolge zu erzielen.

Der verhältnismäßig lange Zeitraum hält freilich politische

Beobachter und Medien kaum ab, schon jetzt mit dem Rechenstift zu kalkulieren und sogar erstmals die Möglichkeiten eines „Dreierrennens” mit aller Art von Zweckverbindungen ins Kalkül zu ziehen.

Vor drei Jahren hat der entschieden geführte Krieg im Südpazifik, der dem Sieg entwachsende „Falklandfaktor” Frau Margaret Thatcher geholfen, einen Tiefpunkt der Partei zu überwinden und in der Wahl zu triumphieren. Ähnliche Auswirkungen erwarteten sich die Tories von der Kapitulation des Bergarbeiterführers Arthur Scargill und seiner militanten Garden.

Tatsächlich ist jedoch das Ende des einjährigen, von Ausbrüchen der Gewalt begleiteten Ausstandes der großen Oppositionspartei zugute gekommen. Kinnock hat seitdem die Hände frei und das Dilemma vom Hals, die Bergleute zu unterstützen, ohne allzu laut gegen die unseligen Belgeiterscheinungen wettern zu dürfen, was wiederum der Partei vom breiten Publikum zum Nachteil ausgelegt worden war.

Darüber hinaus hat Kinnock erstmals seine vordem nach allen Himmelsrichtungen auseinanderfallende Partei wieder fest im Griff. Die unseligen Flügelkämpfe sind abgestorben, der Hausfriede ist gesichert, die revoltierende sanfte bis ultraradikale Linke verhält sich bemerkenswert ruhig.

Die Arbeitslosigkeit, in der Ära Thatcher auf Rekordhöhe von gut über 3,2 Millionen, ist Frau Thatchers schwerste Hypothek und Labours Chance. Das Programm einer massiven Investition durch die öffentliche Hand in den Arbeitsmarkt bleibt so lange auf Sand gebaut, als die Gewerkschaften abseits stehen.

Parteivize Hattersley lockt die natürlichen Alliierten mit einer Art von Lohnpolitik, die in der Vergangenheit stets fehlgeschlagen hat, um der unweigerlich auftretenden Geldentwertung Herr zu werden. Mit dem Zustandekommen oder Fehlschlag eines solchen Stillhalteabkommens steht oder fällt Kinnocks Glaubwürdigkeit und Anspruch, „als nächster die Regierung zu bilden”.

Mehr oder weniger kleine Revolten auf den Hinterbänken der eigenen Partei—gegen Arbeitspolitik und Zähmung der öffentlichen Ausgaben, gegen die unpopuläre Abschaffung der von Labour kontrollierten Großlondo-ner- und Metropolitanräte, gegen die Reform des Wohlfahrtsstaates und neuerdings auch gegen die Zugehörigkeit zur EG - machen das Leben für die Regierungschefin nicht leichter.

Schwerer wiegt freilich noch, daß die wohlpropagierte moneta-ristische Politik zur Einschränkung der Inflation nur schleppend wirkt. Mit sieben Prozent Geldentwertung ist Großbritannien mittlerweile sogar hinter Irland zurückgefallen, nicht zu reden von einem Vergleich mit Japan, den USA, der Bundesrepublik und der Schweiz.

Und das, obwohl alle Energie auf die Inflationsbekämpfung gerichtet ist. Es will einfach nicht gelingen, die Staatsausgaben unter Kontrolle zu halten. Der Streit um wachsende Anteile im nächsten Budget durch die einzelnen Ressortminister ist bereits im vollen Gange. Zudem wird sich im Vorfeld der nächsten Parlamentswahlen die öffentliche Hand aus Werbezwecken, wie schon in den Jahren 82/83, etwas lockern.

Von der Einhaltung des Sparprogramms hängt allerdings ab, ob die Regierung ein Kernversprechen wird einlösen können, nämlich Steuererleichterungen im Ausmaß von drei Milliarden Pfund jeweils in den nächsten drei Jahren.

„Das ist die Partei, die Steuern beschneidet!” erklärte die Premierministerin letztes Wochenende im wallisischen Llandudno, und sie vergißt dabei geflissentlich, daß heute der britische Bürger im Durchschnitt prozentual mehr dem Finanzminister abliefert, als er dies vor 1979 getan hat. Parteipräsident Gummer spricht von einer „moralischen Pflicht” des Staates, dem Bürger die Steuerlast zu erleichtern. Denn nur dadurch könne den Armen, den Arbeitslosen und Familien geholfen werden, hohe Besteuerung sei dagegen ein „Jobkiller”.

Der Mut der Regierung, das geliebte System des Wohlfahrtsstaates zu reformieren und durch Rationalisierung Einsparungen zu erzielen, wird allgemein anerkannt. Ebenso ist die Erkenntnis, daß die Mittel des Staates für das Wohl aller Bürger nicht unbeschränkt sind, Gemeinplatz. Gleichwohl kann das Unterfangen Stimmen kosten, weil die Bedürftigen, Kranken und Alten eine Verschlechterung ihres ohnedies beklagenswerten Lebensstandards befürchten.

Mag sein, daß die Fürsorge nun wirklich gezielt auf jene gerichtet ist, die es am nötigsten haben. Wer die eigentlichen Verlierer und Gewinner der Änderung sein werden, ist noch nicht klar, weil die Regierung (aus Angst?) mit Zahlen zurückhält.

Eines allerdings ist sicher: Die Ungleichheit der Einkommen ist im Königreich größer als in anderen vergleichbaren Ländern. Daran hat sich auch unter Frau Thatcher nichts geändert. Durch die absolute Verminderung der Kinderbeihilfe, eine der ersten fühlbaren Maßnahmen nach der Veröffentlichung der Grundzüge, sind in erster Linie die Minderbemittelten betroffen. Die Löhne der Jungen und Hilfsarbeiter sind seit 1979 faktisch zurückgegangen. Besser und gut Gestellte dürften dagegen mit den Konservativen zufrieden sein.

Wird die Arbeitslosigkeit in absehbarer Zeit zurückgehen und den Konservativen wieder Auftrieb geben? Die Regierung hält sich mit Prognosen zurück. Die London Business School, die zugleich mit dem Arbeitgeberverband ein gedeihliches Wachstum der britischen Wirtschaft voraussagt, ist nicht allzu optimistisch: 1988 immer noch mehr als 2,8 Millionen ohne Arbeit.

Ob dies für Frau Thatcher ausreicht, ein seit eineinhalb Jahrhunderten gültiges Gesetz - kein dritter Wahlgewinn eines Premiers in einer Folge - zu brechen, ist zumindes unter gegenwärtigen Voraussetzungen fraglich.

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