6974314-1985_41_12.jpg
Digital In Arbeit

Die Mitte der Schrift

Werbung
Werbung
Werbung

Die Bibel ist ein umfangreiches Buch, das sich nicht ohne weiteres dem unbefangenen Leser erschließt. Aus dieser Schwierigkeit entsprang die alte Frage nach der sogenannten Mitte der Schrift, die erkunden will, ob irgendeine Einzelstelle in der Bibel den Schlüssel zum Verständnis der ganzen Schrift zu liefern vermag.

„Die Zehn Gebote“, so mögen manche Juden sagen. „Die Bergpredigt“, mag die Antwort vieler Christen sein.

Als Jude scheint mir die beste Lösung im zwölften Kapitel des Markusevangeliums zu liegen.

Dort heißt es: „Und einer der Schriftgelehrten, der gehört hatte, wie sie miteinander debattierten, trat hinzu, und da er wußte, daß er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches Gebot ist das erste von allen? Jesus antwor-. tet ihm: Das erste ist: Höre Israel! Der Herr, unser Gott, ist allein Herr; und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele und aus deinem ganzen Verstand und aus deiner ganzen Kraft. Das zweite ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Größer als diese ist kein anderes Gebot.“

Nachdem dann der Schriftgelehrte in seinen eigenen Worten die beiden Gebote der Gottesliebe und der Nächstenliebe wiederholt hat, heißt es im Schlußsatz: „Und als Jesus sah, daß er verständig geantwortet hatte, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes“ (Markus 12,28-34).

Zwei Dinge sollten hier hervorgehoben werden: Die Antwort Jesu könnte heute von jedem Rabbiner ohne Zögern unterschrieben werden. Sie drückt, wie kaum ein anderes Bekenntnis, trefflich die Seele des ganzen Judentums aus. Und da dieses Herzstück aus dem Evangelium auch zum Glaubenskern des Christentums gehört, so haben wir es hier mit der gemeinsamen Mitte beider Testamente der Bibel zu tun.

Seltsam scheint hier nur, daß Jesus auf eine einzige Frage zwei verschiedene Antworten gibt: Welches ist das erste Gebot, will sein Gesprächspartner wissen. Jesus aber zitiert zwei Schlüsselstellen aus seiner Bibel, die auch die meine ist.

Für einen Hindu oder Buddhisten mag das wie eine überflüssige Verdoppelung anmuten. Nicht aber für rabbinisch geschulte Juden, wie Jesus einer war.

Denn diese Doppelliebe gilt ja seit eh und je als ein Gebot, aus dem gut jüdischen und christlichen Grund, der sowohl im Talmud als auch im ersten Johannesbrief zu finden ist, wo es heißt: „Wenn jemand sagt, ich liebe Gott, und haßt seinen Bruder, so ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er gesehen hat, der kann Gott nicht lieben, den er nicht sehen kann.“ (1 Jo, 4,20).

Rabbi Heschel pflegte das Doppelgebot folgendermaßen auszulegen: Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du. Gott spricht: Ich habe euch beide als Träger meines Ebenbildes geschaffen, so daß jeder Nächstenhaß nichts anderes ist als verkappter Gotteshaß. Indem du deinem Nächsten etwas nachträgst, ihn verabscheust oder geringschätzt, tust du all dies dem göttlichen Funken an, der in seinem Herzen brennt und ihm den Adel des Menschentums verleiht.

Brüderlichkeit

Nur eine Gottesliebe, die spontan und ungezwungen in Nächstenliebe ausmündet, nicht weil es nützlich oder anständig ist, sondern weil sie den Nachbarn als Menschenbruder unter Gott voll anerkennt, in ihrer Zweieinigkeit ist es, die dem Zweifüßler zur Ebenbildlichkeit Gottes verhilft. Das ist die Quintessenz der biblischen Frohbotschaft. Der Rest ist Kommentar.

Und nun ein letzter Blick auf unseren Markustext. Nicht Feindschaft noch Rechthaberei kennzeichnen hier die Beziehungen Jesu zu seinen jüdischen Zeitgenossen, sondern echte Freundschaft, Sympathie und Brüderlichkeit. So war es einst — vor dem Auseinandergehen der Wege zwischen Kirche und Synagoge. So kann es wieder werden—wenn wir alle das Gebot der Doppelliebe so ernst nehmen, wie Jesus selbst es tat. Denn dann, aber nur dann, sind wir nicht fern vom Reiche Gottes, wie er sagte.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung