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Die Musterknaben der Demokratie

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Abgesehen von Regierungschef Jözsef Antall, der am ersten Jahrestag der Parlamentswahlen als Vorsitzender des Demokratenforums rührend optimistische Worte für die Arbeit seiner Mannschaft gefunden hatte, wollen die anderen Parteien recht wenig von einer Bilanz wissen.

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Abgesehen von Regierungschef Jözsef Antall, der am ersten Jahrestag der Parlamentswahlen als Vorsitzender des Demokratenforums rührend optimistische Worte für die Arbeit seiner Mannschaft gefunden hatte, wollen die anderen Parteien recht wenig von einer Bilanz wissen.

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Die vergangenen zwölf Monate sind nicht so sehr das Jahr des ersten freien Nachkriegsparlaments, sondern das eines gleich nach den Wahlen geschlossenen Paktes zwischen Regierung und Opposition. Die neuen politischen Institutionen funktionieren auf den ersten Blick tatsächlich so gut, daß man damit ohne weiteres hausieren gehen kann. Regierungspolitiker versäumen in dieser Hinsicht auch keine Gelegenheit. Es ist freilich schon eine andere Frage, daß sich infolge der bereits unüberwindlichen Verständigungsschwierigkeiten im Parlament die meisten der Abgeordneten sich schon lange lieber auf die eigene Profilierung konzentrieren.

Folglich nimmt der unselige Parteienstreit auch kein Ende. Indes kümmert sich die Gesellschaft immer weniger um die Frage, ob das ganze politische System überhaupt noch funktioniert. Der in diesem Jahr von allen Seiten so gepriesene Systemwandel hat sich nämlich ohne die aktive Mitwirkung der Bürger vollzogen. Und so sieht er auch aus.

Nach außen hin funktioniert die Demokratie fast tadellos, manche Nachbarländer sind schon neidisch darauf. Die Rechtsstaatlichkeit wurde gefestigt, niemand braucht mehr vor ehemaligen Sicherheitspolizisten oder Parteifunktionären im Demokratengewand Angst zu haben. Extremisten - woher sie immer auch kommen mögen - können keine Massen mehr bewegen. Und dem Nationalismus gegenüber, diesem Nervengift der Region, scheinen die meisten Ungarn immun zu sein.

Dafür sind aber die wirtschaftlichen Schwierigkeiten groß, wenngleich noch nicht tragisch. Die Angst vor Massenarbeitslosigkeit wird zwar von den Massenmedien immer wieder geschürt, doch die Regierung konnte sich zu den notwendigen Entlassungen doch

noch nicht entschließen; lieber läßt sie den bankrotten Staatsunternehmen - wie üblich - Subventionen in Milliardenhöhe zukommen. Umschulungsstätten, Wohnungen und neue Arbeitsplätze stellt sie nicht zur Verfügung.

Die Kosten des stets verlängerten Überganges trägt natürlich der Bürger in Form von ständigen Preiserhöhungen und stagnierenden Löhnen. Er ist das wohl gewöhnt aus den Zeiten des Kädär-Regimes. Viel mehr, als auch diesmal irgendwie über die Runden zu kommen, interessiert ihn nicht.

Es ist diese gelernte Passivität, auf die Regierung und Opposition im April des vergangenen Jahres ihren Pakt aufbauen konnten. Dem damals „im Interesse der Regier-barkeit des Landes" zwischen dem Demokratenforum (MDF) und dem liberalen Bund Freier Demokraten (SZDSZ) ausgehandelten Vertrag schlössen sich alle anderen Parlamentsparteien stillschweigend an. Das erste Gebot hieß die Wahrung des inneren Friedens; die Vergangenheit dürfte und sollte nicht angerührt werden. Dazu assistierte auch die auf ihre Freiheit einst so erpichte Presse mit besonderer Hingabe.

Die altbewährten Starmoderatoren und Hofschreiber des Kä-där-Regimes erkannten, wie nützlich die Förderung einer gesamtnationalen Amnesie für die Beibehaltung ihrer Posten sein konnte. Ungestört von ihren gestrigen Äußerungen sprechen und schreiben sie seitdem als Musterknaben der Demokratie.

Der Verzicht auf den Bewußt-werdungsprozeß, aus dem mit der Zeit der mündige Bürger hervorgehen könnte, scheint sich auszuzahlen. Mitreden oder mitbestimmen, gar mitregieren will die Mehrheit der Betroffenen überhaupt nicht.

Natürlich sind die meisten der jetzigen ersten Pol it-Ganitur durch keine Demokratieschule gegangen. Die dadurch entstandene und in der Praxis sich immer wieder reproduzierende Unsicherheit erzeugt einen Dauerdruck und führt nicht selten zu Improvisationen. Es mangelt in Ungarn nicht nur an mündigen Bürgern, sondern auch an mündigen Politikern. Die beidseitige Unmündigkeit könnte im Falle weiterer wirtschaftlicher Verschlechterung schwere Folgen für Ungarns Demokratie haben.

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