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Die Nacht, in der die Synagogen brannten

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Ob der Novemberpogrom sein Etikett Nazi-Zynismus verdankt oder dem Witz regimekritischer Berliner, ist nicht mehr festzustellen. „Reichskristallnacht“ das Wort mag seine zähe Überlebenskraft gerade dem Umstand verdanken, daß es so schlecht zu dem paßt, was es bezeichnet.

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Ob der Novemberpogrom sein Etikett Nazi-Zynismus verdankt oder dem Witz regimekritischer Berliner, ist nicht mehr festzustellen. „Reichskristallnacht“ das Wort mag seine zähe Überlebenskraft gerade dem Umstand verdanken, daß es so schlecht zu dem paßt, was es bezeichnet.

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Zuerst brannten die Bücher. Dann brannten die Synagogen. Schließlich brannten die deutschen Städte.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 gingen die noch in Deutschland bestehenden Synagogen in Flammen auf. SS, SA und Polizei hielten. Wache. Die Feuerwehren beschränkten sich auf Maßnahmen, um das Ubergreifen der Brände auf die Gebäude in der Nachbarschaft zu verhindern. Synagogen, die wegen ihrer engen baulichen Verflechtung mit den Häusern der Nachbarschaft nicht angezündet werden konnten, wurden „nur“ verwüstet. Der Tempel in der Sei-tenstettengasse (ein Hauptwerk Josef Kornhäusels) entging auf diese Weise als einziger Wiens der völligen Zerstörung.

Der Novemberpogrom war Startschuß zur endgültigen „Ausschaltung“ der Juden. Mit ihren Tempeln verschwanden die fünfeinhalb Jahre nach Hitlers „Machtergreifung“ noch immer weithin sichtbaren Zeichen des jüdischen Glaubens, die in vielen Städten städtebauliche Akzente gesetzt hatten und zum Teil bedeutende architektonische Leistungen darstellten. Zugleich wurden die noch bestehenden jüdischen Geschäfte geplündert, die Auslagenscheiben zertrümmert, das Mobiliar zerschlagen.

Die Massen der Scherben gaben dem Ereignis den Namen: „Reichskristallnacht“. Er wurde in Berlin geprägt. Die Frage, ob er als besonders zynischer Eintrag ins Wörterbuch des Unmenschen gelten muß oder als subversive Sprachschöpfung gelesen werden kann, entzweit die Geister.

Im ganzen „Reich“ fielen dieser Nacht etwa 400 noch bestehende

Synagogen zum Opfer, 49 allein in Wien. Bis zum März hatte es in Wien 95 Bethäuser gegeben, neben den sechs Gemeindetempeln der Kultusgemeinde viele kleine, ganz einfache Betstuben.

Wien, und keineswegs nur das jüdische Wien, verlor in der „Reichskristallnacht“ einige Bauten von großer Schönheit - solche, die sich dem Stil der katholischen Kirchen anpaßten, wie die Synagogen in der Kluckygasse und in der Pazmanitengasse, aber auch solche, die reizvolle orientalisie-rende Kontraste setzten, wie der Leopoldstädter Tempel oder die „polnische Schule“.

Die Zahl der zerstörten jüdischen Geschäfte in Deutschland (einschließlich der „Ostmark“) wird auf 7.500 geschätzt. Das waren nahezu 100 Prozent derer, die noch bestanden.

Jenen, die ab 1945 Osterreich als das Land darstellen wollten, dem der Nazismus „zutiefst wesensfremd“ gewesen war und das sich ihm vehement widersetzt hatte, bietet der Novemberpogrom wenig Material zur Verifizierung dieser Behauptung. Wie die „Volksgenossen“ wirklich dachten, erfuhren die Nazibonzen aus den regelmäßigen geheimen Lageberichten des SD, des Sicherheitsdienstes der SS, welche die „nichtöffentliche Meinung“ ungeschminkt wiedergaben. Der „Jahreslagebericht 1938 des Sicherheitshauptamtes“ machte denn auch kein Hehl daraus, daß die „Reichskristallnacht“ in gro-

ßen Teilen des Reiches bei vielen Menschen Abscheu erweckt hatte und daß viele für die Juden eintraten. Uber die Reaktion der „rechtsoppositionellen Gruppen“ heißt es wörtlich: „Die getroffenen Maßnahmen wurden einheitlich als ungerecht und eines Kulturvolkes unwürdig bezeichnet.“ Besonders schlecht seien sie im katholischen Westen des Reiches sowie „im Süden (mit Ausnahme der Ostmark)“ angekommen.

Vermutlich wurde nirgends in Nazideutschland mit solcher Hingabe geplündert wie eben in der „Ostmark“, besonders in Wien. Hier war der Novemberpogrom Höhepunkt und Ende der wilden Bereicherung auf eigene Faust. In vielen Teilen des Nazireiches entsprach der verordnete Pogrom durchaus den Wünschen der Anhängerschaft - in Wien kann guten Gewissens von einem Druck der NS-Basis in Richtung auf eine Verschärfung der Gangart gesprochen werden. Dabei bestand freilich ein tiefer Interessenkonflikt, was das weitere Schicksal der jüdischen Firmen betraf. Die Nazi-Habenichtse wollten solche übernehmen. Man habe, kann man in vielen Bittbriefen potentieller Arisierer lesen, schließlich „für die Bewegung gelitten und große Opfer gebracht“—nun wolle man nicht beiseite geschoben werden.

Für Insider war freilich auch nach der „Reichskristallnacht“ noch manches zu holen. Eine eigene Dienststelle bei der Gestapo, die Vugesta, verwertete Möbel, Silber, Teppiche, Bilder und sonstige Sachwerte aus den Wohnungen der Deportierten. Bonzen und Gestapobeamte durften besonders günstig einkaufen, ein besonders cleverer Schätzmeister der Vugesta bezog hier zu günstigsten Preisen die Waren für sein privates arisiertes Antiquitätengeschäft. •

Die „Reichskristallnacht“ führte auch zu Streit in der obersten NS-Führungsschicht. Die Verschärfung der Maßnahmen gegen die Juden hatte schon vor Monaten eingesetzt. Noch zielte sie auf Ausplünderung und Vertreibung ab. Möglichst große Vermögenswerte sollten zurückbleiben, um der Aufrüstung zu dienen. Der Mord von Paris (siehe Kasten) dürfte trefflich zu Hitlers weiteren Plänen gepaßt haben. Aber Hermann Göring war über die sinnlose Zerstörung so großer Vermögenswerte verärgert — und wohl auch darüber, daß er von den Vorgängen erst während einer Eisenbahnfahrt erfuhr, als die Tempel schon brannten und die Schaufensterscheiben in Scherben lagen.

Von ihm stammte die Bemerkung, 200 erschlagene Juden wären ihm lieber gewesen als die Vernichtung der Sachwerte. Von ihm stammte aber auch der Vorschlag, die Juden selbst für den Schaden aufkommen zu lassen und nicht nur eine „Sühneleistung“ von einer Milliarde Reichsmark einzuheben, sondern auch die von den Versicherungen zu bezahlenden Summen zugunsten des Reiches einzuziehen (einen Teil durften sie als ihren Teil der Beute behalten) und die Juden trotzdem zur „Wiederherstellung des Straßenbildes“ zu zwingen. Die „Erste Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ wurde am selben 12. November 1938 in derselben Sitzung im Reichsluftfahrtministerium beschlossen.

Statt der geforderten Milliarde wurden eineinviertel Milliarden Mark „Kontribution“ kassiert, zu denen noch rund 225 Millionen Mark Versicherungsgelder kamen, die den Inhabern der zerstörten Geschäfte gebührt hätten, aber vom Staat eingezogen wurden. Was ihnen dann noch blieb, wurde ihnen als „Reichsfluchtsteuer“ oder unter anderen windigen Bezeichnungen abgenommen, so daß Merischen, die Betriebe und Vermögen hatten retten wollen, Deutschland nun völlig mittellos verließen. Von der „Reichskristallnacht“ bis zum Kriegsausbruch verließen 120.000 Juden Deutschland — fast so viele wie zwischen 1933 und 1938. Noch ahnten nur die wenigsten, was den Zurückbleibenden bevorstand.

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