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Die nächste bitte?

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Thomas Kenner, der neue Rektor der Grazer Karl-Fran-zens-Universität, steckte in seiner Inaugurationsrede Reformbedingungen ab. Hier ein stark gekürzter Auszug.

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Thomas Kenner, der neue Rektor der Grazer Karl-Fran-zens-Universität, steckte in seiner Inaugurationsrede Reformbedingungen ab. Hier ein stark gekürzter Auszug.

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Beschäftigung mit wissenschaftlichen Problemen sollte nicht verhindern, über Frieden untereinander nachzudenken. Schon immer gab es unter Wissenschaftlern Konkurrenz, Neid, Angst vor dem Besseren. Selbst Isaak Newton wird nachgesagt, daß er Gottfried Wilhelm Leibniz, der ähnliche Ideen wie er selbst entwickelte, mit Haß verfolgte. Ich sehe von meinem neuen Aussichtsturm mit Schrek-ken, welcher Unfrieden in manchen Institutionen der Universität herrscht, und auch, welche Rückwirkungen dieses Verhalten auf die Vorschriften des Universitätsorga-nisationsgesetzes hat. Man müßte allerdings auch den Gesetzgebern das Studium der menschlichen Verhaltensphysiologie vorschreiben, damit nicht weiterhin Vorschriften produziert werden, deren Auswirkungen normale zwischenmenschliche Beziehungen an Universitäten noch schwieriger machen als sie sowieso schon sind.

Der zweite Gedanke bezieht sich auf die Hilflosigkeit der Wissenschaftler mit dem, was durch ihre Forschung und ihr Werk in Gang gesetzt wurde, selbst zu Rande zu kommen. Hier gilt der technologische Imperativ - wie eine Zwangsneurose: „Was wir erfunden haben, müssen wir auch benützen“ -, selbst wenn damit Schaden angerichtet wird. Es wäre entscheidend, sich die Konsequenzen der eigenen Aktivitäten immer vor Augen zu halten!

Der dritte Gedanke bezieht sich auf die Ereignisse im Osten, wo sich nach Jahrzehnten der Unterdrük-kung demokratische Kräfte durchsetzen. Egon Friedell hat diese Entwicklung als Möglichkeit vor über 50 Jahren vorausgeahnt. Er hat von der geistigen Erneuerung des Ostens und damit des Christentums durch die russische Seele gesprochen. Ich hoffe, daß unsere Unterstützung aus dem Westen nicht gerade das Abgleiten in jenen Verblödungsprozeß mit sich bringt, der offenbar mit der Liberalisierung der Medien unvermeidlich verknüpft ist. Wo ist da die Wissenschaft geblieben, die gegen diesen geistigen Smog arbeiten sollte?

Wie mein Freund Manfred Deist-ler kürzlich formuliert hat, kann man unsere derzeitigen Lebensumstände mit der Aussage beschreiben: „Auf einem sehr langsam sinkenden Schiff kann man sich die Kabine noch schön einrichten.“ Es gibt Mitmenschen, die diese Lebenskunst mit Perfektion beherrschen.

Wenn man die täglichen Nachrichten aufmerksam hört und liest, sollte die drohende Wahrheit dieses Bildes offensichtlich sein: Das Bild der Menschen, die angesichts dringend zu lösender Probleme nur an ihr eigenes kurzfristiges Wohlergehen denken.

Der elfenbeinerne Turm gilt als Symbol und Modell der Universität - und hat eine sehr ambivalente Bedeutung. Wie wir seit Sigmund Freud wissen, kennzeichnet der Gebrauch von Symbolen meist unbewußt unsere Einstellung. Der Turm ist ein uraltes archetypisches Symbol von Macht und Männlichkeit. Er ist andererseits ein Symbol, das im Hohelied des Salomon zur Beschreibung der Geliebten herangezogen wurde und taucht in subli-mierter Bedeutung in barocken Marienlitaneien auf. Der Turm als Symbol der Alma Mater, der segenspendenden und fruchtbringenden Mutter. Dieser Turm mag Wacht oder Aussicht bedeuten, Symbol des Aufstieges, aber auch des Sich-Abschließens und Eingesperrtseins. Man mag auch ah den Turm des Schachspieles denken, der nach dem Willen eines Spielers strategisch daund dorthin geschoben wird. Elfenbein deutet als Material von hohem Wert die Unberührtheit und Unberührbarkeit an, und neuerdings auch die Ausrottung einer Tierart.

Ist Universität heute überhaupt mit einem Turm positiver oder negativer Bedeutung vergleichbar? Vielleicht mit dem Babylonischen Turm? Oder nicht nur vergleichbar, sondern repräsentiert in der Gestalt des Wiener Allgemeinen Krankenhauses? Oder ist es symbolträchtig, daß in Graz gegenwärtig das EDV-Zentrum und das Institut für Volkskunde trotz hilfloser Proteste der Baupolizei von Mineuren unterhöhlt werden? Wie in Wien während der Türkenbelagerung...

Es läßt sich nicht vermeiden, daß ein Fachgebiet, mit dem man sich einen großen Teil seines Lebens beschäftigt, eine Prägung hinterläßt. Ich möchte deswegen ein wenig über mein Fach und gewisse Implikationen für meine neue Aufgabe sprechen. Physiologie wird heute in den meisten Lehrbüchern als die Lehre von der normalen Funktion des Organismus, seiner Organe und deren Bestandteile - bis in die Molekülstrukturen - definiert. Da man auch die Physiologie des Verhaltens mit einschließen muß, umfaßt der Begriff Physiologie auch Wechselwirkungen zwischen Individuen. Der Begriff Physiologie beruht auf derselben Wurzel wie Physik. Das griechische Wort phy-sis bedeutet Natur, Naturordnung, Wesen aller Dinge, Welt, das Gewordene, das Geschöpf.

Physiologie hat es seit jenem Moment gegeben, als man begann, über Lebensvorgänge nachzudenken. Physiologie ist demnach - auch schon lange, bevor der Begriff selber auftaucht - überall dort existent, wo es um die funktionellen Grundlagen und die Theorie der

Medizin und des Lebens überhaupt geht. Physiologie ist die Wissenschaft vom Leben und von der Schöpfung und grenzt deswegen eng an medizinische Ethik, da wir uns in ihrem Rahmen Gedanken über die Frage machen müssen: Was ist Leben und wann kann man von menschlichem Leben sprechen? Die grundlegenden Kenntnisse, die in unserem Fach erarbeitet wurden, ermöglichen eine Antwort und zwingen uns zu höchster Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben von der Empfängnis bis zum Tod.

Johannes Müller (1801-1858), der als einer der Stammväter der modernen Physiologen aufzufassen ist, wird die Aussage zugeschrieben, jeder Physiologe müsse auch Philosoph sein. Leider ist diese Mahnung zunehmend in Vergessenheit geraten, offenbar weil man der Meinung ist, daß Naturwissenschaft auf Philosophie verzichten kann. Dadurch verzichtet man auch auf Erkenntnistheorie, was zur Folge hat, daß man sich über den Zugang zum Wissen immer weniger Gedanken macht und daher auch gar nicht merkt, wie sehr man sich vom Zentrum des Interesses, dem Menschen, entfernt.

Tatsächlich haben wir in letzter Zeit Methoden verfügbar, Lebensvorgänge im subzellulären und molekularen Bereich zu studieren. Wenn man diesen Aspekt zu ausschließlich in den Vordergrund stellt, besteht die Gefahr, das Ganze vor lauter Details zu übersehen. Und das Gesamte ist in der Physiologie nie einfach nur die Summe der Teile.Der physiologische Organismus funktioniert und lebt nur als Gesamtsystem. So möchte ich auch ein Bekenntnis zur Einheit der Universität ablegen, da auch hier eine Abtrennung von Teilen einer Amputation gleichkommt.

Es mag sein, daß diese Überlegungen trivial erscheinen, jedoch ist alles Grundlegende trivial. Die Ähnlichkeit von Systemcharakte-ristika komplexer Gebilde ist weder zufällig noch bedeutungslos. Die Möglichkeit, direkte Analogieschlüsse zu ziehen, ist gering. Jedoch ist die Art des Zuganges vergleichbar und auch die Liste der Funktionen und Kriterien, die eine Beurteilung erlauben.

Im übrigen könnte man heute vom Standpunkt der Systemanalyse das Symbol des elfenbeinernen Turms durch das Symbol des wenig beobachtbaren und schwer steuerbaren Systems ersetzen. Diese Beschreibung deutet wenigstens an, daß wir heute Methoden verfügbar haben, dieses System zu prüfen und seine Eigenschaften zu verbessern.

Ich habe schon wiederholt meine Meinung dargelegt, daß die Universitätsangehörigen, von Studenten bis zu Professoren, eigentlich ein überzeugenderes Zusammengehörigkeitsgefühl - wie man heute sagt, eine corporate identity - benötigten. Wir müssen uns hier in Österreich bewußt sein, daß alles, was wir brauchen, verfügbar ist, im wesentlichen alles funktioniert, ohne daß man um das tägliche Brot bangen oder ringen muß. Unter diesen Umständen ist es verständlich, daß Ereignisse oder Personen, deren Existenz kurzfristig keinen bemerkbaren Einfluß auf den Ablauf des Alltages ausüben, wenig Aufmerksamkeit erregen. Im Grund genommen steckt darin die gleiche Resignation, die manche Kollegen durch den Wunsch zum Ausdruck bringen, zum ehestmöglichen Zeitpunkt in Pension zu gehen.

Ich möchte demgegenüber gegen die Resignation aufrufen. Wenn man bedenkt, daß mehr als die Hälfte aller Menschen hungert, daß es in so manchen Ländern Menschen gibt, die glücklich sind, überhaupt an einer Universität lernen zu können, obwohl man sich dort keine neuen Bücher und Zeitschriften leisten kann, sollte uns bewußt sein, wie gut es uns hier geht.

In allen Bereichen der Universität, Verwaltung, Organisation, Studium, werden ständig - und derzeit wieder einmal mit besonderer Intensität - Verbesserungen und Reformen geplant. Es ist interessant und gleichzeitig bedauerlich, daß dieseReformdiskussion zyklischen Charakter haben, wobei auch periodisöh die gleichen Argumente wiederkehren. Im Fall der medizinischen Studienreform gab es zur Zeit Billroths fast genau die gleichen Argumente wie jetzt. Dies rührt zum Teil daher, daß sich tatsächlich bisher kaum etwas geändert hat, weil immer wieder der E influß vielfältiger Interessengruppen (Studenten, Professoren, Kammern, Parteien, Individuen) nach vielen Sitzungen, Dienstreisen und Tausenden von Kopien, geplante Reformen in eine Anpassung des Stundenplanes umzuwandeln vermag. Man muß aber auch sagen: Da sich die jeweiligen Fakultäten aller österreichischen Universitäten einigen müßten, ist die Chance revolutionärer Neuerungen unter den heute gegebenen Bedingungen gering.

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