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Die Narrenfreiheit der Phantasie

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„Verrückte Vernunft?" Unter diesem Titel versammelte die Steirische Akademie in Graz Fachleute aus aller Welt. Sir Ernst Gombrich, London, skizzierte die Möglichkeiten moderner Kunst.

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„Verrückte Vernunft?" Unter diesem Titel versammelte die Steirische Akademie in Graz Fachleute aus aller Welt. Sir Ernst Gombrich, London, skizzierte die Möglichkeiten moderner Kunst.

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Ich glaube, wir müssen uns bequemen, gewisse Schlagworte zu revidieren, die schon zu lange in der Kunstgeschichte und auch in der Kunstkritik herumgeistern: Ich meine vor allem die Ansicht, die so leicht von der Feder fließt, die Kunst eines Zeitalters sei eben der Ausdruck des sogenannten Zeitgeistes.

Ich habe eigentlich nie an Geister geglaubt und habe mich in meiner Arbeit von Jugend an gehütet, diese Hegelianische Formel zu ernst zu nehmen. Wer als Historiker sich mit dem zwanzigsten Jahrhundert befaßt oder befassen wird, wird gewiß überwältigt sein von der Rolle, die Wissenschaft und Technik in diesem Zeitraum gespielt haben. Diese Mächte haben unsere Welt verwandelt.

Der Triumph der Technik wirkte auf manche Künstler und Kritiker geradezu berauschend. Architekten wie Le Corbusier propagierten ihr Ideal einer neuen Architektur des Zeitalters, in der das Haus zu einer Wohnmaschine wurde, und Fernand Leger, der vom Kubismus herkam, verherrlichte das Maschinenzeitalter in seinen monumentalen Kompositionen. Vor allem aber waren es die italienischen Futuristen, die sich diesen neuen Mächten ganz verschrieben hatten.

Ich bin alt genug, noch ihren Führer Marinetti in Wien seine Werke vortragen gehört zu haben; er heulte dabei, um das Geräusch einer Maschine nachzumachen, wobei mir der Kontrast zwischen seiner Kraftprotzerei und seinen auf Hochglanz gewichsten Lackschuhen hauptsächlich in Erinnerung geblieben ist. Aber auch die Mystik der Maschine, die die Futuristen mit der Verherrlichung des Krieges verbanden, war durchaus irrational und vernunftwidrig. Mit der wirklichen Umwälzung unserer Lebensformen hatte sie nichts zu tun. Auch sie war eher ein neurotisches Symptom, ein verzweifelter Versuch, sich Mut zu machen.

In der Tat, was mich an all den Erscheinungen interessiert, ist ja die Tatsache, daß die Kunst damals und vielleicht auch noch heute einen Zufluchtsort zu bieten schien gegen die übermächtigen Forderungen der disziplinierten Vernunft.

Dem widerspricht durchaus nicht, daß sich manche der erwähnten Kunsttheorien mitunter auch sozusagen in einem Nebensatz auf die angeblichen Erkenntnisse der neuesten Wissenschaft beriefen, die angeblich selbst den Materialismus außer Geltung gesetzt hatten, ob es nun die Atomphysik war, oder die Relativitätstheorie oder gar die Psychoanalyse. Es ist nun einmal eine alte Tatsache, daß nichts so sehr zum Erfolg einer Bewegung beiträgt, als wenn sie sozusagen das Widersprüchlichste zu vereinigen vermag.

Ich habe keinen Zweifel, daß auch die verworrensten und widersprüchlichsten Kunsttheorien als ein Symptom für die Rolle der Kunst in unserem Jahrhundert gelten können. Für jene Minorität, die sich diesen Fragen zuwendet — und wir brauchen uns ja nicht vorzumachen, daß es keine

Minorität ist—hat die Kunst sozusagen eine neue Rolle übernommen, eine Rolle, die sie seit den Tagen der Romantik suchte: der Phantasie und dem Traum eine Zufluchtsstätte zu bieten in einer Welt, die nur allzu nüchtern scheint.

Ich glaube, jeder Kunstfreund sollte den Künstlern ihre mühsam erkämpfte Narrenfreiheit gerne gönnen. Die ungehemmte Erfindungsfreude im Spiel und im Ernst vermag uns oft zu erquik-ken, auch wenn wir uns keine weiteren Gedanken machen wollen, ob diese nie gesehenen Formen und Farben einen tieferen Sinn vermitteln sollen. Wir können sie ja unvoreingenommen genießen, ohne gleich in ihnen die Zukunft verkörpert zu sehen. Müssen wir doch in jedem Fall die kommenden Generationen ihrem eigenen Urteil überlassen, wenn wir auch nicht vorschnell ablehnen sollen, was uns oder ihnen einmal Freude bereiten kann, denn auch neue Stilformen wollen manchmal gelernt werden, wie das sogar von neuen Speisen oder Getränken gilt.

Ich hoffe, es wirkt nicht blas-phemistisch, wenn ich behaupte, daß sich die bildende Kunst im Grunde ans Auge wenden soll, sowie die Kochkunst an den Gaumen. Auch der tiefsinnigste Kommentar zu einer Speisekarte wird mich nicht überreden, eine Sauce zu bestellen, die abscheulich schmeckt.

Es scheint mir nämlich wichtig, daß wir uns auch hier vor falschen Alternativen hüten müssen. Cle-menceau sprach einmal in bezug auf die Politik von den terribles simplificateurs, den schrecklichen Vereinfachern. Sie treiben auch im Kunstbetrieb ihr Wesen. Die Ablehnung einer Kunstanschauung, die die Kunst mit einer sklavischen Kopie der Wirklichkeit verwechselt, kann viele Formen annehmen. Der Künstler stand nie vor der Wahl, ob er sozusagen die Natur geistlos abspiegeln oder ihr den Rücken kehren soll. Kein Künstler unserer Zeit hat sich leidenschaftlicher gegen diese falsche Alternative gewendet als der große Österreicher Oskar Kokoschka.

Auch Kokoschka machte sich von Jugend an Sorgen, vielleicht sogar übertriebene Sorgen, über die Mechanisierung und die Ent-seelung unserer Welt, die zur Entmenschlichung führen müßte. Aber er suchte das Heil in einer Kunst, die sich dem Wunder der sichtbaren Welt zu erschließen sucht. Vor etwa dreißig Jahren hat mich der Meister mit der Einladung beehrt, in Salzburg an seiner „Schule des Sehens" zu sprechen, und ich erinnere mich noch wie heute, wie er die Arbeiten seiner Schüler beurteilte. „Sehen Sie", höre ich ihn sagen, „hier singt die Farbe schon."

Auch in der abstrakten Kunst kann der Maler seine Farben singen machen, jedenfalls soll der Unterricht ihm lieber diese Möglichkeiten vor Augen führen, als die Jugend mit jenen ganz vollkommenen Widersprüchen zu traktieren, die nicht einmal mehr sehr geheimnisvoll wirken. Der Drang zum Ubersinnlichen muß ja durchaus nicht im Unsinnlichen Zuflucht suchen.

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