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Die NATO in der Krise

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„Die NATO-Doktrin ist bankrott”, verkündete der ehemalige Chef des Pentagons, Robert McNamara. Er sprach damit aus, was viele längst dachten.

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„Die NATO-Doktrin ist bankrott”, verkündete der ehemalige Chef des Pentagons, Robert McNamara. Er sprach damit aus, was viele längst dachten.

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Den letzten größeren Anstoß, die Dinge voranzutreiben, gab wieder einmal Michail Gorbatschow. Nachdem die Genfer Verhandlungen zwischen den Supermächten zu stagnieren schienen, überraschte der Spitzenmann der Sowjetunion den Westen abermals: Er schwenkte auf eine westliche Forderung ein, Mittelstrek-kenraketen sollen weltweit und nicht nur in Europa beseitigt werden. Erleichterung war fast überall im Westen die Folge, nun stehe einem „Doppel-Null-Abkommen” wohl wenig mehr im Weg.

Probleme gibt es wohl nur für die Regierung in Bonn, sie gerät nun unter besonderen Druck. Nicht eben freudig (Verteidigungsminister Manfred Wörner: „mit Knurren”) hatte man dort die „Null-Lösung” akzeptiert, und zwar unter der Bedingung, daß die 72 deutsch-amerikanischen Pershing-IA-Raketen von der Verschrottung ausgenommen würden. (Bei den Pershing Ia bilden weniger die in deutscher Hand befindlichen Raketen den Stein des Anstoßes, sondern die Atomsprengköpfe. Diese sind in amerikanischer Verwahrung, also nach sowjetischer Version sehr wohl Gegenstand amerikanischsowjetischer Verhandlungen.)

Nun, nach Gorbatschows letztem Entgegenkommen, sind sie der letzte größere Streitpunkt. Inzwischen haben aber nicht nur Sozialdemokraten und Grüne, sondern auch FDP-Politiker betont, an den Pershing IA dürfe die Einigung der Supermächte nicht scheitern.

Die Atomrüstungsszene ist offensichtlich in Bewegung. Vor wenigen Jahren hielt man in NA-TO-Kreisen Mittelstreckenraketen noch für unabdingbar (sogar unabhängig davon, ob die Sowjetunion ihre SS 20 aufgestellt hätte), nun scheint man ihnen keine Träne nachzuweinen. Was steckt dahinter?

Hinter den Unklarheiten verbergen sich konzeptionelle Untiefen. Sachkenner wie Zbigniew Brze-zinski (Sicherheitsberater von Präsident Jimmy Carter), Morton Halperin (Verteidigungs-Unter-staatsekretär unter Präsident Johnson) oder Henry Kissinger (Chefdenker unter Richard Nixon) plädieren für eine Revision. Am brutalsten formulierte es vielleicht Robert S. McNamara, ehedem Weltbank-Präsident, aber just zu der Zeit, als die bis heute geltende NATO-Strategie beschlossen wurde, Chef des Pentagons. In seinem neuen Buch „Blundering into Disaster” verkündet er schlicht den „Bankrott” der bisherigen Strategie: Auf Grund konventioneller Unterlegenheit sehe sie den baldigen Ersteinsatz von Atomwaffen vor, aber das würde zur Zerstörung nicht nur Westeuropas, sondern auch der USA selbst führen. Der Wert nuklearer Abschreckung sei im Schwinden. Das SDI-Projekt (siehe Kasten) erweise sich als zunehmend dubios: außer Präsident Reagan und Caspar Weinberger spreche längst niemand mehr davon. So sieht es ein hochkarätiger Amerikaner. Welche Sicht haben die Westeuropäer?

Frankreich setzte seit jeher auf Atomabschreckung in Eigenregie. Der Bundesrepublik sind Nuklearwaffen versagt — um so eindringlicher berief sie sich auf die „Ankoppelung” der Garantiemacht USA mit Hilfe des „Flexible Response”-Mechanismus. Dabei spielten die Mittelstreckenraketen eine nicht unumstrittene Schlüsselrolle.

Die Idee des „strategischen Patts” schien zwar einleuchtend — es sollte die Supermächte vor lebensgefährlichen Konfrontationen abschrecken. Auch das NATO-Ar-gument, man brauche „taktische” Atomwaffen zum Ausgleich konventioneller Unterlegenheit, um „unterhalb” der strategischen Abschreckung ein Gleichgewicht zu halten, war nicht ohne Logik. Aber wozu sollten die Mittelstrek-kenraketen im Bereich dazwischen gut sein, da sie aufs erste weder der einen noch der anderen Notwendigkeit entsprachen? Waren sie, ob nun die sowjetische SS 20 oder die amerikanische Pershing II, nicht am ehesten als Erpressungsmittel geeignet und eben deshalb besonders gefährlich?

Die Erklärung der NATO war: erst ein Mehrstufenpotential von Atomwaffen sichere die Abschreckung in Europa, nur der Besitz eines „vorletzten Mittels” bewahre vor Eskalation. Andererseits sichere diese „Flexible Re-sponse”-Doktrin die „Ankoppelung” der USA, die effektive Solidarität der Bündnispartner. Und die Vielfalt der Optionen sei ein zusätzlicher Abschreckungsfaktor, da sie das Risiko für den Gegner unkalkulierbar mache.

Die Doktrin hatte schon längst Einwände provoziert: Verführt die Idee der Stufenleiter nicht dazu, den Nuklearkrieg als führbar zu betrachten? Wird durch diese Tendenz nicht nur die Unbe-stimmbarkeit des Risikos verstärkt, aufgrund des „Worst Case Thinking”? Und blockiert diese Undurchschaubarkeit nicht die Rüstungskontrolle? Daß die Doktrin dennoch 20 Jahre lang galt, hat etliche Gründe.

Wie jedem Staatslenker, muß es auch dem USA-Präsidenten zuerst um die Existenz seines Landes und Volkes zu tun sein. Der Sinn von „Flexibilität” liegt für ihn darin, daß nicht jeder Regionalkonflikt automatisch für die USA den „strategischen Schlagabtausch” auslöst. Umgekehrt liegt der Sinn von „Flexible Response” für die Westeuropäer aber darin, daß der Domino-Mechanismus es den Amerikanern eben unmöglich machen soll, sich im kritischen Fall aus der Affäre zu ziehen, denn dann wäre die Abschreckung durch Rückendek-kung unglaubwürdig. Diese Zweideutigkeit erhob die NATO-Doktrin gleichsam zum Prinzip: sie wurde zum potentiellen Vorteil erklärt - die Unsicherheit erhöhe das Risiko für einen Gegner.

Nun bricht die Doppel-Null-Lösung (FURCHE 28/1987, S.3) zwei Sprossen aus dieser Leiter — oder zwei Steine aus dem Dominospiel. Und damit ist die bislang geltende Logik massiver in Frage gestellt als vorher. Immer gewichtiger werden die Stimmen, die Supermächte sollten ihre Nuklearstrategie auf das Prinzip wechselseitiger Sicherheit und auf Minimalabschreckung umstellen.

Was bedeutet dies für die Westeuropäer?

Eben das ist die Frage, und sie stellt sich aus mancherlei Gründen. Bisherige Verfechter von „Flexible Response” halten die Abkoppelung der USA längst für eine Tatsache. Franz Josef Strauß zum Beispiel. Andererseits hat der Warschauer Pakt dem Westen vorgeschlagen, die Militärdoktrinen der Allianzen auf die Tagesordnung zu setzen. Ziel sei die „radikale Verringerung der militärischen Konfrontation”. Dem Defensivcharakter der Militärdoktrin entsprechend, soll es eine Verminderung der konventionellen Streitkräfte und Rüstungen geben, so daß jede Seite „bei Gewährleistung der eigenen Verteidigung über keine Mittel für einen Überraschungsangriff auf die andere Seite sowie für Angriffsoperationen überhaupt verfügt”.

Das sind Ideen, die von militärpolitischen Alternativdenkern des Westens schon seit geraumer Zeit vertreten werden, und zwar in noch prägnanterer Weise. „Gleichgewichts”-Vorstellungen führen nicht weiter, bloß quantitatives Kräftegleichgewicht sei stets labil und kaum objektiv bestimmbar, daher fast stets umstritten. Diesem Dilemma entrinne man nur, wenn man „Stabilität” nicht mehr vom bloßen Gleichgewicht erwarte, sondern sozusagen von gegenläufigen Ungleichgewichten: nämlich so, daß auf beiden Seiten die Verteidigungschancen gestärkt, die Angriffschancen gemindert werden, nach dem Muster: weniger Angriffspanzer, mehr Panzerabwehrwaffen. Technologische und organisatorische Kriterien sind seit Jahren herausgearbeitet worden, die Schlüsselbegriffe sind „Defensive Posture” und „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit”.

Inwieweit diese Vorstellungen tatsächlich von den Militärhistorikern des Warschauer Paktes übernommen werden, ist schwer abzuschätzen; man bemüht sich jedenfalls, westliche Gesprächspartner davon zu überzeugen, und das ist neu. In vergangenen Jahren war die sowjetische Neigung, auf derlei Konzepte einzugehen, gering. Noch ist allerdings unklar, wohin mögliche neue Wege führen.

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