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Die neue Unordnung in Europa

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Im Lande der Spaghetti-Wickler habe ich erfreuliche Tage verbracht und bin auf den Spuren meiner Vorfahren gewandelt. Natürlich waren diese weder Etrusker noch Römer - noch stamme ich von den Medici, den Razzi, Pazzi oder ähnlichen Familien ab - aber auch dort, in der Toscana -Österreich wohin man schaut! War doch dieses Land viele Jahre, eineinhalb Jahrhunderte fast, dem milden (Würge-)Griff Wiens ausgesetzt. Franz Stefan, der Lothringer, Gatte Maria Theresias, brachte die Toscana ans Habsburgerreich und erst Garibaldis Risorgioment einigte Italien und holte damit Florenz, Pisa, Siena und die anderen Stadtrepubliken „heim ins Reich” - ins vereinigte Italien, das jetzt wieder auseinanderzustreben scheint, will doch der reiche Norden den armen Süden nicht mehr füttern.

Klingt irgendwie bekannt, die G'schicht mit dem reichen und dem armen Bruder. Aber was kommt einem in Mittelitalien nicht bekannt vor? Die Loggia dei Lanzi in Florenz war der Stützpunkt der bodyguards der Medici: deutscher und schweizerischer Landsknechte; und die Landesfarben der Toscana sind noch heute rot-weiß-rot. So wie die Farben der Alpenrepublik, dem Rest des einstmals riesigen Habsburgerreiches. In San Gimignano finde ich am Sockel des Kriegerdenkmales eine österrei-chisch-ungarische Kanone, die von einem k. u. k. U-Boot herstammt. Einige Leser werden es nicht mehr wissen, kaum glauben, aber es gab einmal eine österreichisch-ungarische Kriegsmarine. Admiral Tegetthoff war ihr Chef, das Flaggschiff hieß „Viribus Unitis” und ist ebenso untergegangen wie das Vielvölkerreich. Der nachmalige ungarische Reichsverweser Konter-Admiral Nikolaus von Horthy war kaiserlicher Soldat, genauso wie der jugoslawische Staatschef Tito und Alcide de Gasperi - der große Denker der- Christdemokraten Italiens. Von Thomas G. Masarykganz zu schweigen. Nur ein gewisser Adolf H. diente im deutschen Heer.

Nun sind die Karten der Weltpolitik neu gemischt, manches Blatt ist unter den Tisch gefallen, liegt dort, als warte es darauf wieder aufgehoben und ins Spiel gebracht zu werden. Es ist merkwürdig! In der Sonne sitzend dachte ich oft über das nach, was man Neuordnung in Europa nennt und ich bin ärgerlich, daß das Alte so gründlich zerstört wurde - wo es jetzt als Stabilisierungsfaktor wirken könnte. Aber wer weiß - nur, denke ich, daß wir im langsamen Wien nichts unternehmen werden, ohne zu wissen, was das kosten könnte und - ob wir das auch bezahlen können und wollen. Das soll keine Anspielung sein, aber Vergleiche drängen sich auf, das müssen Sie zugeben. In der großen Welt geht es nämlich zu wie in der kleinen des Theaters. Da wird lustvoll (und sündhaft teuer) zertrümmert, zerstört und devastiert - Ahs aus dem Fenster geworfen und dem angeekelten Publikum Haarsträubendes präsentiert, obwohl man weiß, daß das nur wenigen Spinnern gefällt.

„Continental breakfast”

Zurück zu Italien. Bei exorbitanten Preisen - wie kann sich ein italienischer Arbeiter das alles leisten? - Urlauben die (noch) Wohlstandsbürger in der Toscana wie eh und je. Volter-ra, Siena, Cecina - Deutsche, Engländer, Holländer, Franzosen und Österreicher wohnen still und einträchtig im selben Hotel und spielen vereintes Europa. Aber schon beim Frühstück werden Unterschiede sichtbar. Tee trinkende Briten frühstücken spartanisch, Franzosen ziehen zum Kaffee süßes Gebäck vor, nur die Germanen, Nederlander und Austriaken stopfen sich, quer durch das Büffet, bis zu den Augenbrauen voll. Wurst, Käse, Eier,

Butter und Marmelade - es ist zum -no ja, sagen wir, zum Nicht-Hinschau-en. Was aber wirklich stört, ist, daß mancher Mustereuropäer pharisäerhaft die Augen niederschlägt und meint: „Und die armen Bosnier laufen um ihr Leben!” ,3eruhigt Euch”, sag' ich leise vor mich hin - sie laufen nicht mehr lange, denn bald sind sie krepiert, ausgelöscht, vergessen. Und Europa hat wieder einmal versagt.

Wie damals, als der lächerliche Herr Chamberlain „peace for our time” verkündete. Hätte man damals nicht tatenlos zugesehen, wie die Nazis in Österreich und der Tschechoslowakei einmarschiert sind, wäre es nie zu den grauenhaften Zuständen im ExJugoslawien des Jahres 1993 gekommen. EWR, EG, EUROPA - ein Verein von großmäuligen Geschäftemachern, Umweltzerstörern und Feiglingen. Das schmerzt und macht traurig-

Justitia fundamentum regnorum est. So steht es, in goldenen Lettern, am äußeren Burgtor zu Wien. Aber nur dort - leider nur dort steht es. Hundertprozentig praktiziert wird der Spruch von der Gerechtigkeit, die das Fundament des Herrschers ist, nirgendwo.

Staaten fallen auseinander, Ideologien brechen zusammen, Skandale türmen sich auf und werden von Skandalblättern ins Unendliche gesteigert. Italien verachtet die einst geliebten Andreotti und Craxi, Faschisten und Kommunisten ziehen Gewinne aus den Skandalen. Das ganze Land ist ein Skandalon par excellence. Und da hat vor Jahresfrist ein Massenblatt Deutschlands von der Skandalrepublik Österreich geschrieben. Lächerlich! Es wirft sich nur die Frage auf, warum muß Deutschland auch da nach vorne drängen? Oder ist der Abmarsch der Herren Seiters, Streibl und von Stahl eine quantitee negligeable? Man sollte, bevor man Mistkübel ausleert, sehr genau prüfen, ob man nicht in einem oder gar mehreren Glashäusern wohnt.

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