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Die neuen Wirklichkeiten"

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Der zweite Teil von Canettis autobiographischer Erzählung befaßt sich unter dem Titel „Die Fackel im Ohr" mit dem Jahrzehnt 1921-1931. Im folgenden schildert der Autor seine innere Welt nach der Rückkehr von Berlin, 1929.

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Der zweite Teil von Canettis autobiographischer Erzählung befaßt sich unter dem Titel „Die Fackel im Ohr" mit dem Jahrzehnt 1921-1931. Im folgenden schildert der Autor seine innere Welt nach der Rückkehr von Berlin, 1929.

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Denn durch die entschlossene Ablösung von Berlin hatte ich mir wohl äußere Ruhe verschafft, aber es war keine Idylle, in die ich zurückkehrte. Ich war voll von Fragen und Chimären, Zweifeln, bösen Ahnungen, Katastrophenängsten, aber auch von einem unheimlich starken Willen, mich zurechtzufinden, die Dinge auseinanderzunehmen, ihre Richtung zu bestimmen und sie dadurch zu überschauen.

Nichts von allem, was ich in zwei Berliner Aufenthalten mitangesehen hatte, ließ sich beiseiteschieben. Bei Tag und bei Nacht tauchte alles auf, ohne Regel, ohne Sinn, wie mir schien, als Bedrängnis, vielgestaltig, wie die Teufel Grünewalds, dessen Altar ich in Einzelteilen an den Wänden meines Zimmers hängen hatte. Es zeigte sich, daß ich mehr aufgenommen hatte, als ich selber wahrhaben wollte. Der modische Ausdruck „verdrängen" schien nicht für mich geschaffen. Nichts war verdrängt, es war alles da, immer, zugleich und so deutlich, als könne man es mit Händen greifen.

Von irgendwelchen Gezeiten, über die ich keine Macht hatte, hing es ab, was auf Wellen vor mir auftauchte und von anderen Wellen beiseitegeschoben wurde. Immer spürte man die Weite und Erfülltheit dieses Meeres, das von Ungetümen brodelte, die man alle erkannte. Das Erschreckende daran war, daß alles sein Gesicht hatte, es sah einen an, es öffnete den Mund, es sagte etwas oder es wollte etwas sagen. Die Verzerrungen, mit denen es einen bedrängte, waren berechnet, sie hatten ihre Absicht, sie quälten einen mit sich, sie brauchten einen, man empfand den Zwang, sich zu stellen. Aber kaum hatte man die Kraft dazu gefunden, waren sie von anderen beiseitegeschoben worden, deren Ansprüche an einen nicht geringer waren. So ging es weiter und kam alles immer wieder, und nichts blieb lange genug, um sich fassen und lösen zu lassen. Vergebens streckte man Arme und Hände aus, es war zuviel da und es war überall, es war nicht zu bewältigen, man war darin verloren.

Nun wäre es gar kein Unglück gewesen, daß nichts von den Berliner Wochen versickert war, daß man alles bewahrt hatte. Es hätte sich aufschreiben lassen und es wäre ein farbiger und vielleicht gar nicht uninteressanter Bericht geworden. Er ließe sich noch heute schreiben, so lange hat es sich erhalten.

Aber ein Bericht hätte das Wesentlich daran nie erfaßt: die Drohung, mit der es geladen war, und die gegensätzlichen Richtungen, in die es zog. Denn der eine, einheitliche Mensch, der es aufgefaßt hatte und nun scheinbar alles in sich enthielt, war ein Truggebilde. Was er bewahrte, hatte sich darum verändert, weil er es mit anderem zusammen in sich verwahrte. Die eigentliche Tendenz der Dinge war eine zentrifugale, sie strebten auseinander, mit größter Geschwindigkeit voneinander weg. Die Wirklichkeit war nicht im Zentrum, wo sie wie an Zügeln alles zusammenhielt, es gab nur noch viele Wirklichkeiten und sie; waren außen. Sie waren weit voneinander entfernt, es bestand keine Verbindung zwischen ihnen, wer einen Ausgleich zwischen ihnen herzustellen versuchte, war ein Fälscher. Sehr weit außen, auf einem Kreise, beinahe am Rande der Welt, standen wie harte Kristalle die neuen Wirklichkeiten, auf die ich zuging. Als Scheinwerfer waren sie nach innen auf unsere Welt zu richten, um diese mit ihnen abzuleuchten.

Sie waren das eigentliche Mittel der Erkenntnis: mit ihnen wäre das Chaos, von dem man erfüllt war, zu durchdringen. Gab es genug solcher Scheinwerfer, waren sie richtig erdacht, so ließe sich das Chaos auseinandernehmen. Es durfte nichts ausgelassen werden, man durfte nichts fallenlassen, alle üblichen Tricks der Harmonisierung verursachten Ekel. Wer sich noch in der bestmöglichen aller Welten glaubte, der sollte die Augen weiter geschlossen halten und an blinden Entzückungen sein Genüge finden, der brauchte auch nicht zu wissen, was uns bevorstand.

Da alles, was ich gesehen hatte, zusammen möglich war, mußte ich eine Form finden, es zu halten, ohne es zu verringern. Eine Verringerung war es, Menschen und Verhaltensweisen so zu zeigen, wie sie einem erschienen waren, ohne zugleich zu übermitteln, was aus ihnen werden mußte. Die Potentialität der Dinge, die immer mitschwang, wenn man mit Neuem konfrontiert wurde, die unausgesprochen blieb, obwohl man sie auf das Stärkste empfand, ging eben in den Darstellungen, die als genau galten, vollkommen verloren.

In Wirklichkeit hatte alles eine Richtung und alles nahm überhand, Expansion war eine Haupteigenschaft von Menschen und Dingen, um davon etwas zu fassen, mußte man die Dinge auseinandernehmen. Ein wenig war es so, als hätte man einen Urwald, in dem alles verschlungen durcheinanderwuchs, zu entwirren, jedes Gewächs vom anderen zu lösen, ohne es zu beschädigen oder zu zerstören, es in Spannung für sich zu besehen und weiterwachsen zu lassen, ohne es wieder aus dem Auge zu verlieren.

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