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Die nicht mit der Lüge leben wollen

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Staatliche Repression und Überwachung, wie sie George Orwell in seinem Roman „1984" beschreibt, gehören in manchen Staaten Osteuropas zum Alltag. Dennoch formen sich immer wieder Menschenrechtsgruppen und Oppositionsbewegungen, Ein markantes Beispiel ist die CSSR-Bürgerrechtsbewe-gung „Charta 77", die wieder kräftige Lebenszeichen gibt.

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Staatliche Repression und Überwachung, wie sie George Orwell in seinem Roman „1984" beschreibt, gehören in manchen Staaten Osteuropas zum Alltag. Dennoch formen sich immer wieder Menschenrechtsgruppen und Oppositionsbewegungen, Ein markantes Beispiel ist die CSSR-Bürgerrechtsbewe-gung „Charta 77", die wieder kräftige Lebenszeichen gibt.

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In einer Prager Wohnung, gefilmt von einer 8,8-Schmal-filmkamera, fand kürzlich der Führungswechsel innerhalb der Bürgerrechtsbewegung statt: Die Sprecher der „Charta 77" des Jahres 1983 - Jan Kozlik, Marie Ruth Krizkova und Anna Mara-nova - übergaben ihre Aufgabe vereinbarungs- und routinegemäß an ein neues Triumvirat:

• anVaclavBenda.einenaktiven Katholiken, der erst vor einigen Monaten aus der Haft entlassen worden war;

• an Jana Sternova, die schon im Widerstand gegen die Nazis aktiv war und dafür im KZ saß;

• an den ehemaligen Journalisten und jetzigen Kranführer Jiri Ruml, der vor sieben Jahren die „Charta" unterschrieben hat.

In ihrem Einführungs-Statement erinnerten die drei neuen Sprecher daran, daß zwei ehemalige „Charta"-Sprecher, Rudolf Battek und Ladislav Lis, inhaftiert sind. Sie betonten, daß sie ihre Aufgabe als Bürger dieses Landes wahrnehmen, denen das Schicksal der Nation nicht gleichgültig ist. Dies sei auch der Grundgedanke der „Charta quot;.Ruml wörtlich: „Wir denken uns keine Probleme aus, wir weisen auf Probleme hin, die es in diesem Lande gibt. Und wenn die Behörden ihre Pflicht nicht tun, dann sagen wir, was man besser machen könnte. Die .Charta' ist eine Bürgerinitiative derjenigen, denen das Schicksal der Nation am Herzen liegt."

Läßt man Revue passieren, wie viele Dokumente und welche Inhalte die „Charta 77" im vergangenen Jahr aufgegriffen hat, zeigt sich nicht nur die erstaunliche Lebensfähigkeit und der enorme Fleiß dieser 1.200 Aktivisten und Sympathisanten umfassenden Menschenrechtsgruppe, sondern auch eine thematische Vielfalt, die überdeutlich darauf hinweist, daß man sich für das Schicksal der ganzen Nation verantwortlich fühlt.

Die „Dokumente" der Charta, die stets offizielle und inoffizielle Informationen zu einem seriösen und genau recherchierten Gesamtbericht verarbeiten, befaßten sich mit der Umweltverschmutzung in Nordböhmen ebenso wie mit den Pressionen gegen die Pop-Musik, mit der Frage der Raketenstationierung ebenso wie mit der Lage im Nachbarland Polen (Würdigung der Nobelpreisverleihung an Lech Walesa, Appell an Regierungschef Gene-

ral Jaruzelski, politische Gefangene freizulassen).

Das dramatischste Ereignis des vergangenen Jahres war wohl die versuchte Teilnahme der „Charta" am vom Regime gesponserten „Friedenskongreß". Mehrere Bürgerrechtler wurden festgenommen, und während einer Begegnung mit „Friedenskämpfern" aus der BRD, England und Holland — offiziellen Delegierten des Kongresses — wurden sie vom Geheimdienst gewaltsam aus einem Prager Park gewiesen.

In einem „Charta"-Appell an die Teilnehmer des offiziellen Kongresses, der diesen jedoch nie ausgehändigt wurde, hieß es: „Häufig wird der Zusammenhang von Frieden und Menschenrechten betont. Wir glauben nicht, daß es hierbei nur um einen — festeren oder loseren — Zusammenhang zweier verschiedener und mehr oder weniger selbständiger Größen geht, sondern daß es hier — wie man mit tausend konkreten Argumenten belegen kann — eigentlich um eine einzige Sache geht."

In der auch in der CSSR recht heftig geführten Raketenstationierungsdebatte, wo sich selbst innerhalb der Partei Haarrisse im monolithischen Block zeigten, war die „Charta" aktiv und wurde Opfer staatlicher Gewalt.

17 Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung wurden von der Polizei zu einem „Dialog" auf die Vernehmungszimmer geschleppt. Dabei wurden sie massiv davor gewarnt, Friedensdemonstrationen zu organisieren oder öffentliche Stellungnahmen abzugeben.

Vaclav Benda, der jetzige Sprecher, der ehemalige Außenminister der Dubcek-Ära, Jiri Hajek, und der Charta-Sprecher von 1983, Jan Kozlik, wurden von der Staatspolizei mehr als 24 Stunden über „schädliche Friedenspropaganda" belehrt. Sie sollten sich die Auffassung zu eigen machen, daß die Stationierung der sowjetischen SS-20 und neuer sowjetischer Atom-Kurzstreckenraketen auf dem Territorium der CSSR dem „Friedenskampf im Weltmaßstab" diene, dem sich die KPTsch verschrieben habe.

Diese Maßnahmen der Staatsgewalt gegen Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung waren vergleichsweise harmlos. Personell mußte die „Charta" 1983 zwei schwere Verluste hinnehmen. Ein Berufungsgericht in Usti nad Labern bestätigte die Strafe gegen den ehemaligen Sprecher Ladislav Lis wegen „Aufwiegelung" und .Aufruf zur zivilen Selbstverteidigung".

Am Jahresende 1983 wurde der „Charta"-Unterzeichner Jifi Wolf wegen „subversiver Tätigkeit" zu sechs Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Begründung: Er habe unter anderem der österreichischen Botschaft in Prag Informationen über die Haftbedingungen in CSSR-Gefängnissen zugeleitet.

Im Verlauf der letzten Jahre haben nur zwei Dissidenten höhere Haftstrafen erhalten als Wolf: Milan Hübl und Jaroslav Sabata waren wegen des gleichen Delikts („Subversion") zu je sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden.

Es ist eine spezifische Eigenart der CSSR-Bürgerrechtsbewe-gung, daß sie — völlig bewußt und risikofreudig — offen agiert. Die Aktivisten bekennen sich zu ihrer Mitgliedschaft mit vollem Namen und Adresse.

Dies entspricht ihrem „legali-stischen" Grundgedanken: Das heißt, sie versteht sich durchaus nicht als „außerparlamentarische" oder gar staatsfeindliche Opposition, auch nicht als Partei, die an die „Macht" kommen möchte. Nein, sie begreift sich als eine Gruppe mündiger Bürger, die auf die formale Verteidigung bestehender Rechte dringt und deren Nicht-Respektierung durch die Staatsgewalt aufzeigt.

Sie kritisiert von dieser Basis aus die gegebenen Verhältnisse, wobei sie — manchmal sogar explizit - alternative Problemlösungen aufzeigt. In den Worten eines „Charta"-Theoretikers, nämlich von Miloä Rejchert: „Unser Programm ist ein konsequenter Minimalismus! Die Charta kann sich nur im Geiste ihres Grundsatzprogramms entwickeln. Opposition, Gewissen des Volkes oder messianische Endzeitgemeinde ist sie in keinem Falle und möchte sie auch nicht sein."

Der Schriftsteller Vaclav Havel, auch einer der „Chartisten" der ersten Stunde, lieferte schon vor Jahren das moralische und ideelle Unterfutter für die alltägliche Arbeit der Bürgerrechtsbewegung mit seiner These: „In der Wahrheit, nicht in der Lüge leben!" Er postulierte eine „existentielle Revolution", das heißt eine „langfristige moralische Rekonstruktion der Gesellschaft". Denn: „Ich befürchte, daß die verderblichen gesellschaftlichen Folgen, von konkreten politischen Interessen hervorgerufen, diese um viele Jahre überleben werden."

Die neuen Charta-Sprecher sind mit ihrem neuesten Dokument, einer Darstellung der Drogensucht unter der CSSR-Jugend, exakt auf diesem Weg. Denn die Flucht in die Droge, von der „Charta" erklärt als eine Absetzbewegung aus einer tristen und sinnentleerten politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit, richtet Schaden in der jungen Generation an, der noch anhielte, auch wenn das kommunistische System in der CSSR jetzt plötzlich zusammenbräche.

Diese moralische Verantwortlichkeit und das persönliche Be-kennertum, das die „Charta"-Be-wegung auszeichnet, gibt jene Widerstandskraft und jene Lebendigkeit, die Orwell im „Großen-Bruder"-Staat seines Romans „1984" offensichtlich zu gering veranschlagte.

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