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Die notwendige Ergänzung

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Als 21jähriger Jus-Student machte sich der jetzige französische Staatspräsident Gedanken über den Anschluß Österreichs an. Deutschland. Pathetisch und nüchtern zugleich.

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Als 21jähriger Jus-Student machte sich der jetzige französische Staatspräsident Gedanken über den Anschluß Österreichs an. Deutschland. Pathetisch und nüchtern zugleich.

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Man kann den Alliierten nicht vorwerfen, schlechte Verträge aufgebaut zu haben, denn jeder Vertrag birgt notwendigerweise die Schwäche in sich, einen Sieg zu verkünden und eine Niederlage abzusegnen. Ohne Zweifel haben sie die Staaten und die Grenzen mehr aufgrund ihrer Vorurteile denn durch angemessene Zuteilung umgestaltet;... ohne Zweifel haben sie die Nationalitäten in schlecht geratene Grenzen eingewiesen und Minderheiten in ihnen fremden, manchmal sogar feindlichen Staaten untergebracht.

Aber die Geschichte will das eben so: ein Vertrag errichtet ein Gebäude; um die Steine, deren Gewicht die anderen tragen, kümmert sich niemand. Daß das Europa von 1919 schlecht zugeschnitten worden ist, was soll's: Der Fehler seiner Schöpfer war es, in Versailles, in Neuüly und in Saint-Ger-main zu vergessen, daß sie nur Papierfetzen unterschrieben...

Das Gleichgewicht, das erworbene Recht, die Natur der Dinge bieten bequemen Unterschlupf an. Warum sich dort nicht ausruhen?

Auf den Grundsatz vergessend, daß der Gerechte stärker sein muß als der Starke, wenn er sich um die Angelegenheiten der Welt annehmen will, haben sich die Siegerländer des Großen Krieges mit dem Erfolg ihrer Waffen begnügt; danach sind sie hinter der Pappfestung aus den Verträgen eingeschlafen.

Und jedesmal, wenn der Besiegte von gestern einen Turm niederriß, zu Staub zermalmte oder brandschatzte und sich dabei auf Lebensnotwendigkeiten berief und auf seinen tiefinnersten guten Wülen, hat man ihm zugerufen: „Bis hierher, aber nicht weiter.“

Als Kanzler Schuschnigg Hitler zur Antwort gab: „Bis hierher und nicht weiter“, hatten die deutschen Truppen schon den Auftrag erhalten, Österreich zu besetzen.

Weü die Gewalt schon eingedrungen war, konnte sie nicht eingebremst werden: wer würde behaupten wollen, daß der Starke gewillt ist, sich einzuschränken? ...

Was ist die Reinheit, wenn sie einmal schwach wird? Was ist der Wille, wenn er sich beugt? Was ist Freiheit, wenn sie nachgibt? Zweifelsohne besteht die Möglichkeit eines Freikaufs oder einer Revanche, aber Blut und Schrek-ken sind ihre Währung.

Wenn Kardinal Innitzer mit „Heil Hitler“ zeichnet, rettet er die Partie für einige Tage: Nichts zu befürchten, solange man ihn brauchen kann. Auch er erklärt, bis hierher verhandeln zu können, aber nicht weiter. Wird man ihn noch um seine Meinung fragen, wenn es darum geht, weiter vorzurücken?

Frankreich, Großbritannien und Italien nehmen den Anschluß zur Kenntnis. In mehr oder weniger knappen Worten geben sie ihre Einwilligung kund. „Das reicht. -Europa soll Von nun an unangetastet bleiben. - Genug der Erpressung. — Unsere Armeen rüsten sich, und unsere Völker werden nervös. - Achtung. - Bis hierher und nicht weiter.“...

Mäßigung ist eine Tugend, wenn sie sich auf Gerechtigkeit stützt; und es ist angenehm, Gerechtigkeit und Volkswillen zu verwechseln: Genau das ist der Sinn einer Volksabstimmung.

Osterreich ist deutsch; es ist das andere Deutschland, das der Walzer, das von Wien und von Mozart - dem klassischen Büd zufolge.

Das österreichisch-ungarische Reich wurde zerbrochen, und mit dem Reich ist auch die Seele dahingeschwunden.

Das hochfliegende und leichtlebige Österreich brauchte den Backenbart eines Kaisers und die Blumengirlande der Erzherzoginnen; und rundherum waren der brummige Slawe und der streitlustige Tscheche.

Es gab ein Parlament: eine gute Gelegenheit für jedermann, seine Meinung geltend zu machen, aber auch ein guter Grund, nichts zu tun, denn wer spricht, handeltn nicht gern.

Aber alles das ist tot, zerfetzt. Und der Schatten des Nachbarn, vielleicht allzu dunkel, aber mysteriös (der Reiz des Mysteriums!^ hat sich ausgebreitet. Die Wirtschaft, das Geld, die Absatzmärkte, die Macht und das Recht, seine Einheit und Stärke laut zu verkünden, welch erstaunlicher Liebesbund!

Und so entsteht Großdeutschland aus einer Niederlage. Was Österreich in der Zeit seiner Größe nicht zustande brachte, was Preußen in der Zeit seiner Hegemonie nicht erreichen konnte oder wollte, das bringt ein verlorener Krieg.

Das deutsche Reich hat seinen treuen Adler wiedergewonnen, dessen doppelter Kopf ins Morgen- und Abendland zugleich weist.

Österreich ist nur mehr eine Provinz. Das Werk Wilsons ist zerrissen. Die Menge, die sich gestern in den Straßen Wiens drängte, um Schuschnigg zuzujubeln, grölt nun das Loblied auf einen neuen Herrn. Panzer und Geschütze dröhnen durch die Straßen. Die Doktores und Professores erklären, daß auf diese Weise dem Selbstverständlichen Anerkennung gezollt wird.

Und das stimmt vielleicht. Der Starke trägt den Sieg davon, er kann sich mit einem Anschein von Gerechtigkeit schmücken. Österreich ist deutsch! Österreich, das ist die deutsche Kultur! Österreich, das ist die notwendige Ergänzung für ein deutsches Reich.

Es stimmt vielleicht, daß Frankreich verrückt sein müßte, zur Rettung eines verlorenen Friedens einen Krieg zu wagen, der Tod eines Menschen ist sicherlich schwerwiegender als die Zerstörung eines Staates.

Alles beweist mir, daß eine Auflehnung gegen das Ereignis durch nichts gerechtfertigt ist. Aber unter diesem Bündel von Vernunftgründen empfinde ich doch noch Besorgnis.

In der enthusiastischen Menge von Wien kann ich die Angst eines einzelnen Gesichts sehen, das sich über die blaue Donau beugt, aber ich versuche vergeblich, darin nicht nur das Dahintosen des Stroms zu erkennen.

Angesichts *der triumphalen Ankunft des Gottes von Bayreuth auf dem Boden Mozarts weiß ich, was für ein Frevel sich anbahnt, und gegen meinen Willen empfinde ich so etwas wie Scham, so als würde ich mir eingestehen, dafür verantwortlich zu sein.

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