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Die Opfer in den Mühlen der Justiz

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Verbrecher verfielen einst der Rache des Opfers und dessen Sippe. Heute straft nur mehr der Staat. Den Opfern bleiben kaum Rechte. Im Verfahren werden sie außerdem leider oft schlecht behandelt...

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Verbrecher verfielen einst der Rache des Opfers und dessen Sippe. Heute straft nur mehr der Staat. Den Opfern bleiben kaum Rechte. Im Verfahren werden sie außerdem leider oft schlecht behandelt...

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Mit Fortschreiten der Entwicklung der Staatsmacht in unseren Breiten entwand diese dem Opfer das rächende Schwert. Als Garant einer Friedensordnung übernahm der Staat das Strafmonopol und verhinderte so Stammes- und Sippenfehden. Verbrechensopfer traten wohl noch als Ankläger auf, die Verhängung und Vollstreckung der Strafe aber übernahm die Staatsgewalt. Der letzte Schritt war die Übernahme der Anklage durch den vom Staat bestellten öffentlichen Ankläger, den Staatsanwalt. Nur mehr in wenigen Bereichen bedarf es einer Privatanklage durch den Verletzten selbst, etwa bei den Ehrenbeleidigungen.

In aller Regel schreitet der Staatsanwalt von Amts wegen ein (Offizialprinzip) und übernimmt die alleinige Verantwortung für die Verfolgung des Rechtsbrechers vor dem Strafgericht oder die Einstellung des Verfahrens.

Das Verbrechensopfer ist in diesem System des staatlichen Strafrechts nur mehr Mittel zum Zweck, es dient als Beweismittel zur Uberführung des Täters. Die Interessen des Opfers decken sich nicht mehr mit dem Interesse des Staates. Der Staatsanwalt will die Verurteilung des Angeklagten erreichen, das Los des Opfers liegt nicht in seinem Blickwinkel.

Dieses ist aus dem Prozeß ausgeschaltet und hat nur die Unbilden zu ertragen, die sich aus einer Staatsbürgerpflicht als Zeuge ergeben, nämlich vor Gericht zu erscheinen, auszusagen und diese Aussage notfalls auch zu beeiden. Das bedeutet, daß der Zeuge zu den von den Strafverfolgungsbehörden festgesetzten Zeiten erscheinen muß, vielfach mehrmals, zuerst zur Polizei. Dann wird er vor den Untersuchungsrichter geladen, dann nochmals zur Hauptverhandlung. Und wenn der Zeuge Pech hat.

so kann es auch zu weiteren wiederholten Einvernahmen kommen. Er muß zu einer ihm nicht gelegenen Stunde seinen Arbeitsplatz verlassen oder seine Freizeit unterbrechen, fährt mit dem Auto zu einem Gericht, wo es in aller Regel keinen Parkplatz gibt, wartet dort auf einem zugigen Gang bis er — vielfach nach längerem Warten — aufgerufen oder auch ohne Einvernahme wieder weggeschickt wird.

Bei der Vernehmung gerät das Verbrechensopfer als Zeuge vielfach ins Kreuzverhör der widerstreitenden Interessen. Es werden ihm Vorhaltungen gemacht, um seine Glaubwürdigkeit zu erschüttern, es wird versucht/ihn in Widersprüche zu verwickeln. Vielfach hat der Zeuge auch gar keine vollständige Erinnerung, und es werden ihm Antworten suggeriert, die er nachher zu bereuen hat.

Die Situation, in der er zum Opfer wurde, ist vielfach für ihn unangenehm. Oft hat sich der Zeuge im Moment des Angriffes nicht sehr vorteilhaft benommen. Insbesondere vergewaltigte Frauen werden einem peinlichen Verhör mit dem Ziel unterzogen, zu prüfen, ob sie nicht den sexuellen Akt doch gewollt, zumindest aber initiiert haben. Aber auch der Beraubte kann sich leicht dem Vorwurf aussetzen, sich mit zuviel Geld und bestimmten unehrenhaften Erwartungen in eine verrufene Gegend begeben zu haben.

Diese Aussagepflicht, die unter der Androhung einer Verurteilung wegen falscher Zeugenaussage steht, ist in jedem Fall unangenehm bis peinlich. Abgesehen von den Unannehmlichkeiten werden Spesen vom Staat nur zum Teil ersetzt. So bleibt höchstens die Befriedigung, zur Verurteilung des Delinquenten beigetragen zu haben, soweit dies eine Befriedigung zu verschaffen vermag.

Der durch das Verbrechen Geschädigte wird durch das staatliche Strafverfahren nochmals ge«-schädigt („die zweite Viktimisierung vor Gericht“). Er ist verdrossen über den Staat und seine Behörden und sagt sich, das nächste Mallverde er eine solche Geschichte gar nicht mehr zur Anzeige bringen. Es ist nicht sicher, ob die Sexualdelikte in unseren Breiten wirklich zurückgehen, oder ob die Väter, Mädchen und Frauen einfach weiterer Befragung aus dem Wege gehen und auf „Hilfe“ der Behörden verzichten.

Dem Opfer kommt insgesamt ein Selektionsfilter für Quantität und Qualität der bekannt gewordenen Kriminalität zu. Im Verhalten des Opfers spiegelt sich unter anderem die Einstellung zur Justiz wider. Für wen zahlt es sich heute noch aus, einen Diebstahl unter 500 Schilling anzuzeigen? Denn das Opfer fragt sich, womit es rechnen müsse, wenn es eine Anzeige erstattet. Wenn das Opfer nicht anzeigt, so deshalb, weil es sich von der Justiz im Stich gelassen fühlt.

Welche Wege gibt es nun, dem Verbrechensopfer in unserem Strafrechtssystem wieder eine entsprechende Rolle einzuräumen, freilich nicht als rächender Ankläger, sondern als jemand, um dessen Wiedergutmachung es ebenso geht wie um die Resozialisierung des Rechtsbrechers?

Das staatliche Strafrecht darf das Verbrechensopfer nicht bloß zum Beweismittel zur Uberführung des Täters degradieren. Es muß den Strafrichtern wieder bewüßt werden, daß das am Verbrechensopfer begangene Unrecht Anlaß des Verfahrens und daher seine Genugtuung mit ein Ziel der staatlichen Anstrengungen sein muß.

Das müßte sich vorerst einmal in der Behandlung des Verbrechensopfers als Zeuge vor Gericht auswirken. Und dies hat mit dem Tonfall der Vernehmung ebenso zu tun wie mit dem sparsamen Umgang der dem Zeugen abverlangten Zeit. Es verschlägt dem Richter doch nichts, wenn er das Telefon zur Hand nimmt, um den zum Abruf bereiten Zeugen erst zu'holen, wenn er wirklich „dran- ■ kommt“.

Es müßte sich in den größeren Gerichten doch ein ständiges Wartezimmer einrichten lassen, und dort, wo es ein Büffet schon gibt, müßte eine Lautsprecheranlage das Warten auf den Aufruf ermöglichen.

Ladungen sollten so erfolgen, daß der Zeuge nicht in der Nachbarschaft in Verruf gerät, selbst etwas angestellt zu haben. Die Polizeiorgane sollten bei ihren Ermittlungen besonderen Takt beweisen. Polizei und Richter wollen j a von den Zeugen eine Dienstleistung. Das würde auch die Bereitschaft der Zeugen zur Mitarbeit und somit zur Aufklärung des Verbrechens erhöhen und sich daher sicher lohnen.

Eine derartige Haltung wird aber durch Gesetzesreformen kaum zu erreichen sein. In Österreich sollte in Aussicht genommen werden, in Verfahren wegen Verbrechens gegen die Sittlichkeit eine bohrende Befragung der betroffenen Frau über unappetitliche Details zu vermeiden. Es ist nicht zwingend notwendig, zwisehen Notzucht nach § 201 StGB, das ist die Brechung des Widerstandes der Frau bis zur Wertlosigkeit, und der Nötigung zum Beischlaf nach § 202 StGB, das ist die Beugung des widerstrebenden Willens, zu unterscheiden.

Ferner ist den Forderungen verschiedener Frauenorganisationen beizutreten, der Frau als Opfer von Sittlichkeitsdelikten in ihrer Rolle als Zeugin das Antragsrecht auf Ausschließung der Öffentlichkeit von der Hauptverhandlung zu gewähren und auch ihr einen Rechtsbeistand zur Verfügung zu stellen. -Die Rechtsordnung hat in Österreich trotz der opferfreundlichen Reformen keine Ausgestaltung erfahren, die die Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen des Verbrechensopfers wirklich entscheidend verbessert hätte. Im übrigen sind staatliche Entschädigungsleistung oder Versicherungsleistung zu begrüßen, dürfen aber private Selbstschutzinteressen nicht ganz zurückdrängen und eine Versöhnung des Opfers mit seinem Täter nicht vereiteln.

Neben dem finanziellen Ersatz bleiben noch zahlreiche nur zwischenmenschlich, aber doch auch mit staatlicher Hilfe zu lösende Probleme offen, die nicht aus den Augen verloren werden dürfen.

Auszug aus der neuesten Studie der “Sozial^ wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft, die demnächst erscheint, und keine Autoren nennt.

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