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Die organisierte Hölle

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Unter den vielen Dokumentationen über die Zustände in den Konzentrations- und Vernichtungslagern des Dritten Reiches muß dem Buch von Hermann Langbein „Menschen in Auschwitz“ besondere Bedeutung eingeräumt werden. Der Autor wurde, als Spanienkämpfer und Mitglied der Kommunistischen Partei, nach seiner Internierung in französischen Lagern, in Dachau inhaftiert und 1942 von dort nach Auschwitz überstellt, wo er bis zum August 1944 verblieb. Als Schreiber des SS-Standortarztes von Auschwitz und Leitungsmitglied der internationalen Widerstandsorganisation des Lagers konnte er sich für einen Häftling ungewöhnliche Einblicke in die dortige Situation verschaffen. Im Lager hat Langbein seine privilegierte Stellung von Anbeginn dahin auszunützen versucht, wo immer das möglich war, weniger begünstigten Leidensgenossen zu helfen, auch unter Gefährdung der eigenen Position, was für ihn als „Mischling“ — eine der Lagerleitung unbekannte Tatsache —

besonders riskant war. „Solange Mischlinge wie Juden behandelt wurden, mußte ich damit rechnen, die lange Stufenleiter vom privilegierten Deutschen bis zu dem auf der untersten Stufe befindlichen Juden hinuntergestürzt zu werden ...“

Nach der Befreiung fühlte Langbein sich verpflichtet, als Überlebender, als unmittelbarer Zeuge und als Stellvertreter für die Millionen von Ermordeten in den deutschen Konzentrationslagern, die nicht mehr sprechen konnten, Nachricht zu geben von den Geschehnissen in den Vernichtungslagern des Dritten Reiches. Daß er das nicht von einem subjektiven Standpunkt aus versuchte, auch nicht von einem parteigebundenen — er hat sich später von der Kommunistischen Partei getrennt und damit seine geistige und politische Unabhängigkeit gewonnen — gibt seinen Publikationen eine Objektivität und Überzeugungskraft, die hier besonders erwähnt werden muß.

Sein letzte Buch „Menschen in Auschwitz“, geschrieben nach jahrzehntelanger Distanz zum unmittelbar Miterlebten, aber basierend auf früheren Aufzeichnungen noch ganz lebendiger Erinnerungen, vereinigt den notwendigen Abstand des Überblicks mit zuverlässiger Genauigkeit. Zudem hat Langbein für seine soziologisch-psychologische Studie der in Auschwitz herrschenden Extremsituation die bereits vorhandene KZ-Literatur, die Ergebnisse der Prozesse gegen die SS-Bewacher und seine umfangreiche Korrespondenz und persönliche Fühlungnahme mit Überlebenden von Auschwitz ausgewertet.

Zunächst einmal wird in seinem Buch das bezeugt, was man aus anderen Publikationen über Auschwitz bereits kennt. Die von Angst und Schrecken geprägte Atmosphäre im Lager; der brutale Massenmord in den Gaskammern, die Selektionen auf der Rampe und in den Krankenblocks, der Tod zahlloser Häftlinge mittels Phenolin-Injektionen, durch Erschießungen an der „Schwarzen Wand“ und durch Verhungern im

Bunker; Langbein hat die Bunkerhaft selbst kennengelernt und überlebt. Dazu die sadistischen Quälereien und Willkürakte der SS-Bewacher, der Terror vieler Häftlingsfunktionäre gegenüber den eigenen Kameraden; das „Fertigmachen“ der Opfer, das langsame Hinsterben Unzähliger durch Hunger, Schinderei und Hoffnungslosigkeit. Dem Schicksal der „Muselmänner“, jener Unglückseligen, die aufgaben und damit ihren sicheren Tod besiegelten, ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Schlimmer als alles andere: das genau geplante Zerbrechen der Persönlichkeit, das Zerschlagen der Persönlichkeit, das Zerschlagen der Menschenwürde der Häftlinge durch die Gewalthaber; die allgemeine Demoralisation, die Zusammenarbeit von privilegierten Opfern mit den Schindern, sehr oft auf Kosten von Leidensgenossen, und schließlich die Ausnahmesituation der Sonderkommandos, der „Geheimnisträger“, die wußten, daß ihr Ende die Gaskammer war.

Langbein geht aber einen Schritt weiter. Er schildert nicht nur die extreme Situation der Vernichtungslager, die Opfer betreffend; auch die SS-Chargen sind von ihr betroffen, und der Autor stellt mehr als einmal fest, daß weder die Häftlinge Engel noch die SS-Leute “teufel waren. Es geht der Frage nach, warum so viele Menschen dazu gebracht werden konnten, andere Menschen ohne Gewissensbisse wie Ungeziefer zu vernichten, und er kommt zu dem Schluß, daß eine starre und harte Erziehung, engstirnige gesellschaftliche Vorurteile, gekoppelt mit den grausigen nationalsozialistischen Mythen, die Legalisierung und Heroisierung verbrecherischer Taten im Namen des Volkes bewirkten, daß normale Menschen in Unmenschen und kriminelle Roboter verwandelt wurden.

Niemals erlaubt Langbein sich Pauschalurteile; er differenziert genau, auch die SS-Leute betreffend; gibt Beispiele von sozusagen geborenen oder frustrierten Sadisten, die ohne Hemmung morden und fleißig ein Ubersoll erfüllen; von SS-Chargen, die widerwillig das Notwendigste tun, und von den Wenigen, die in ihrem Bereich eine Verbesserung der Situation anstreben, manchmal sogar mit persönlichem Einsatz Befehle zu umgehen versuchen. Gerade diejenigen, die sich bereits in Auschwitz um eine Distanzierung von den Verbrechen bemühen, sind dann nach Kriegsende bereit, persönliche Verantwortung auf sich zu nehmen, andere ihrer Art begehen Selbstmord, während die Mörder und Schinder in ihren Prozessen sich auf Befehle von oben berufen und die eigene Verantwortung für ihre Taten leugnen.

Ein mich besonders bewegendes Kapitel sind Langbeins Bemerkungen zur Situation der Überlebenden von Auschwitz. Es gibt wenige, die den Schock des Lebens in einem Vernichtungslager ohne psychische und physische Folgen überstanden haben; viele waren den Bedingungen eines normalen Daseins nach der Befreiung nicht gewachsen. Langbein zitiert seine Leidensgenossin Grete Salus: „Wenn der Körper auch meist einen Knacks weg hat, so ist der Riß im Fundament unserer menschlichen Existenz viel unheilbarer..,“ Und der Autor selbst zu dem Problem: „Die Umwelt fördert eine Gruppenexklusivität der Auschwitzer. In uns lebte die unklare Vorstellung, nach Auschwitz müßte alles anders, besser werden. Die Menschheit würde unsere Erfahrungen als Lehre aufnehmen. Dann mußten wir spüren, daß sie sich gar nicht dafür interessiert ...“

Ernst Papanek, den Langbein ebenfalls zitiert, berührt eine andere schmerzliche Erfahrung, die Frage: „Warum hast du überlebt und die anderen sind gestorben? Was hast du getan ... und im Hintergrund all dieser Fragen: Wen hast du verraten ...“ Jean Amery krankt, wie viele andere KZ-Opfer, an dem Selbstvorwurf, sich an den Peinigern nicht gerächt zu haben: „Daß sie und ich uns nicht erhaben, bleibt unsere immer wieder sich öffnende sehr schmerzhafte Wunde...“ Und Elie Wiesel schreibt: „Ich lebe, also bin ich schuldig. Ich bin noch hier, weil ein Freund, ein Kamerad, ein Unbekannter an meiner Stelle gestorben ist.“ So schwer machen es sich die überlebenden Häftlinge! Die großen und kleinen Mörder, die SS-Schinder dagegen, haben ihre Schuldgefühle falls sie je welche spürten, verdrängt, berufen sich in ihren Prozessen auf Befehle von oben, gegenüber denen es keine Alternative gegeben habe, was nachweislich unrichtig ist. Nur die Zeugen weinen im Gerichtssaal, wenn sie ihre ehemaligen Peiniger wiedersehen; die Angeklagten dagegen gefallen sich nicht selten in Starallüren. Doch Langbein berichtet auch von anderen:

„Richard Böc?c aus Günzburg, der sich außerstande erklärt hatte, seinen Lkw mit Opfern zu den Gaskammern zu fahren, und der als einziger früherer SS-Mann rückhaltlos vor dem Frankfurter Gericht die Mordmethoden der SS beschrieben und seinem Abscheu davor Ausdruck verliehen hat, war auch bereit, im deuschen Fernsehen zu sprechen ... gegen die Verjährungsfrist für NS-Ver-brechen... Später hat er sich allerdings geweigert, nochmals im Fernsehen Erklärungen abzugeben. Offenbar war der Druck, dem er nach der ersten Sendung ausgesetzt war, zu stark gewesen...“

Langbein erwähnt in diesem Zusammenhang Wladimir Bilan, der als Unterscharführer in Auschwitz menschlich zu den Häftlingen war, ihnen geholfen hat und nun in seinem neuen Wohnort, einer bayrischen Kleinstadt, fürchtet, das könne publik werden und für ihn nachteilige Folgen haben!

Bei uns zulande liegen die Dinge nicht besser. Ich hörte einmal eine Frau in Mauthausen weinend sagen, sie wage kaum mehr zu erwähnen, daß ihr Mann und ihr Sohn in diesem Lager ermordet wurden.

Um so notwendiger ist es, sich Langbeins Buch zu stellen. In seiner nüchternen Analyse der unmenschlichen Folgen eines allgewaltigen totalitären Systems wird gleichzeitig die Notwendigkeit persönlicher politischer Bewußtseinsbildung transparent. Menschen, die zu eigenen Urteilen und Entscheidungen fähig sind, lassen sich nicht so leicht zum Werkzeug degradieren, was den Nationalsozialisten allzu mühelos bei der breiten Masse gelang.

Langbein fragt im Schlußsatz seines Buches, ob die Menschheit ihre Lehren ziehen werde aus dem, was in Auschwitz geschehen ist. Wie beschämend, daß eine solche Frage gestellt werden muß; beschämender noch, daß bisher wenig Anzeichen zu einer Bejahung ermutigen.

„MENSCHEN IN AUSCHWITZ.“ Von Hermann Langbein. Europa-Verlag, Wien 19.72. 607 Seiten.

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