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Die Osterprozession

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Es lehren uns heute die Kenner, nicht alles zu malen, wie es ist, dies wäre farbige Photographie — vielmehr sei mit verzerrten Linien und ineinandergefügten Dreiecken und Quadraten die Idee einer Sache wiederzugeben und nicht die Sache selbst.

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Es lehren uns heute die Kenner, nicht alles zu malen, wie es ist, dies wäre farbige Photographie — vielmehr sei mit verzerrten Linien und ineinandergefügten Dreiecken und Quadraten die Idee einer Sache wiederzugeben und nicht die Sache selbst.

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Ich aber vermag nicht, mir auszudenken: Welche Farbaufnahme wählte für uns mit Verstand die notwendigen Gesichter und bannte auf ein einziges Bild die Osterprozession vor der Patriarchenkirche in Peredelkino, ein halbes Jahrhundert nach der Revolution? Allein dieser österliche, heutige Umzug würde uns vieles erklären, gestalteten wir ihn auch mit ältesten Kunstgriffen, ganz ohne Hilfe der Dreiecke sogar.

Eine halbe Stunde vor dem Geläut gleicht der Vorhof der Verklärung- Christi-Kirche dem Rummelplatz vor dem Tanzboden in einer abgelegenen, ausgelassenen Arbeitersiedlung. Die jungen Dinger in bunten Kopftüchern und langen Hosen — wohl auch einige in Röcken —, allesamt mit kräftigen Stimmen, spazieren zu dritt, zu fünft umher, drinnen in der Kirche eine Schar, eine andere in der Vorhalle, wo ein paar alte Weiblein seit dem frühen Abend Plätze besetzt halten — die werden im Vorbeigehen angekläfft —, und draußen, da kreisen sie um den Hof, quietschen ungeniert und hemmungslos, rufen einander von weitem an und bestaunen die grünen, rosaroten, weißen Lichter vor den äußeren Wandikonen und den Grabplatten vieler Erz- und Oberpriester. Und die Burschen — die stämmigen und die schwächlichen —, sie tragen durchweg siegreiche Mienen (wen bezwangen sie denn miįt ihren achtzehn oder; zwanzig Jahren? Eis: sei denn mit dem kleinen Puk das Tor), fast alle haben Kappen, Mützen auf, und wer barhäuptig geht, der tut es nicht nur hier, der geht halt immer so; jeder vierte ist angeheitert, jeder zehnte betrunken, jeder zweite raucht, raucht widerwärtig, der Stummel klebt an der Unterlippe fest. Noch vor dem Weihraum, statt des Weihrauchs steigt im elektrischen Licht graublauer Rauch auf, vom Kirchplatz zum österlichen Himmel, den dunklen reglosen Wolken entgegen. Da spucken sie auf den Boden, dort rempeln sie sich übermütig an, da Pfiffe und dort lästerliches Fluchen; die einen heizen mit Transistoren zum Tanzen an, und die dort knutschen ihre Puppen ab, mitten im Durchgang, zerren die Mädchen vom anderen weg, plustern sich auf wie die Hähne — gib nur acht, daß sie das Messer nicht ziehen: gegeneinander zuerst und dann gegen die Gläubigen auch. Die Jungen blicken um sich, als wären sie nicht die Jüngeren vor den Älteren, nicht Gäste bei Bewirtenden, sondern die Hausherren, für die die Umstehenden lästig wie Fliegen sind.

Zum Messer kommt es nicht — drei, vier Milizmänner stapfen anstandshalber umher. Und der Mutterfluch wird nicht über den Hof gebrüllt, er wird im Ton gedrosselt, zum herzhaften russischen Zwiegespräch. So sieht denn auch die Miliz keinen Mißstand und lächelt der heran- wachsenden Generation friedfertig zu. Mitnichten ist es Sache der Müiz, Zigaretten von den Lippen oder Mützen von den Köpfen zu schlagen. Wir befinden uns auf der Straße, und das Recht, nicht an Gott zu glauben, verbrieft die Verfassung. Die Miliz verhält sich vorschriftsmäßig: kein Grund, sich einzumischen, ein krimineller Tatbestand liegt nicht vor.

Verloren im Gedränge drücken sich die Gläubigen an die Umfriedung des Kirchplatzes, an die Mauern der Kirche, kein Gedanke an Widerstand, nur angstvolles Umherblicken; froh sind sie, nicht angerempelt zu werden, zufrieden schon, daß man ihnen nicht die Uhren abverlangt, von denen sie die Minuten ablesen bis zur Auferstehung Christi. Hier, außerhalb des Gotteshauses, ist ihre, der Gläubigen Zahl um vieles geringer als die der feixenden, spottenden, drängelnden Freibeuter. Bedrückt sind die Gläubigen und eingeschüchtert, ärger als unter den Tataren. Die Tataren haben gewiß der lichten Frühmesse nie derart zugesetzt.

Der Bereich des Gesetzlosen wird nicht betreten, die Gewalttat ist unblutig, die Kränkung trifft die Seele: die vulgär verzogenen Münder, das dreiste Gerede, das Ge- knutsche und Gerupfe, das Rauchen und Spucken keine zwei Schritt von der Passion Christi entfernt; der siegessichere, verächtliche Blick, mit dem die Flegel auszogen, um mit- anzusehen, wie ihre Großväter die Bräuche der Ahnen pflegen.

Hier und da taucht unter den Gläubigen ein jüdisches Gesicht auf. Ob Getaufte oder Fremde, verängstigt blicken sie drein und harren, auch sie, der Prozession. Auf die Juden schimpfen wir alle, die Juden sind uns immerzu ein Dom, doch besser wär’s, sich umzusehen mit Bedacht — was für Russen haben wir uns derweil herangezogen? Du schaust in die Runde und erstarrst. Das sind doch, will man meinen, nicht mehr die Schläger der dreißiger Jahre, nicht mehr jene, die den Gläubigen den geweihten Osterkuchen aus den Händen rissen und johlend den Teufel spielten — nein! Diese hier trieb die Neugierde her: Vorbei ist die Hockeysaison im Fernsehen, die Fußballsaison hat noch nicht begonnen. Langeweile! Darum drängen sie zum Kerzenstand und schieben die Christenmenschen wie Strohsäcke auseinander und kaufen, auf das Kirchenbusiness schimpfend, wer weiß wozu, die Kerzen, füf wfaosrtd scfaftaod ifc Seltsam ist nur; alle kommen sie von auswärts, und doch kennt jeder den anderen, selbst seinen Namen. Wie konnte sich das nur so treffend fügen? Stammen sie nicht gar vom selben Werk? Spaziert nicht gar der Komsomolleiter unter firnen? Sollten ihnen diese Stunden als Ordnungsdienst angemerkt werden?

Da schlägt über den Häuptern die Glocke mit mächtigen Schlägen — volle tiefe Töne, kein blechernes Ersatzgebimmel. Die Glocke tönt und kündet die Prozession an.

Nun ein Drängen! Doch nicht die Gläubigen sind’s, nein wieder ist’s die grölende Schar. Doppelt und dreifach so zahlreich stürmen sie in den Hof, laufen, drängen, wissen selbst nicht, was sie suchen, welchen Platz sie sich freikämpfen sollen, um die Prozession besser zu sehen. Sie zünden die roten Osterkerzen an und daran ihre Zigaretten, so sieht das aus! Sie stoßen einander, wie in Erwartung eines Foxtrotts. Fehlt nur noch der Bierstand, damit die lang- mähnigen hochgeschossenen Kerle — unsere Gattung schrumpft mitnichten — den weißen Schaum auf die Gräber blasen.

Über die Kirchenstufen herab schreitet indes das Haupt der Prozession und schwenkt hierher, begleitet vom feinen Geläut der Gebetsglocke. Voran zwei gewichtige Männer, sie bitten die jungen Genossen, zurückzutreten, soweit es geht. Drei Schritte dahinter folgt ein kahles ältliches Männlein, wohl der Kirchenvorsteher, und trägt schwer an der Stange, die geschliffene Ampel mit der Kerze daran. Er schielt ängstlich zur Ampel hinauf, ob sie auch gerade hänge, und ebenso ängstlich zur Seite… Und hier beginnt das Bild, das ich so gerne malen würde, wenn ich es könnte: der Ampelträger, fürchtet er vielleicht, daß ihn die Erbauer der neuen Gesellschaft zu Boden trampeln, daß sie ihn prügeln werden? Das Grauen überkommt auch den Betrachter.

Die jungen Weibsbilder in Hosen und mit Kerzen und die Burschen mit Zigaretten zwischen den Zähnen, den Kopf bedeckt, die Mäntel offen (Gesichter ohne Prägung, dumm, dreist, Selbstsicherheit für einen Rubel und Verstand für fünf Kopeken, einfältige darunter mit kindlich vollen Lippen und zutrauliche — eine Menge solcher Gesichter soll aufs Bild), ein dichtes Spalier, so begaffen sie eine Vorstellung, wie sie sonst auch für Geld nirgends zu sehen ist.

Hinter der Ampel schwanken zwei Banner, nicht einzeln, jedes für sich, sondern eng beieinander in ihrer Bedrängnis.

Und dahinter, in fünf Reihen zu zweit, zehn singende Frauen mit dicken Kerzen. Sie alle gehören aufs Bild. Die Frauen, schon in Jahren, mit festen, weitabgewandten Gesichtern, bereit, auch zu sterben, wenn die Tiger auf sie losgehen, und zwei von den zehn sind junge Mädchen, Mädchen, so alt wie jene, die mit den Burschen rundum sich drängen, doch wie rein ist ihr Gesicht, wie hell der Glanz darauf.

Die Frauen ziehen singend in geschlossener Reihe. Feierlich sind sie, als schritten sie durch eine Gemeinde, die betet, das Kreuz schlägt, bekennt, aufs Knie sinkt. Diese Frauen atmen nicht den Tabakrauch, ihre Ohren sind taub für die Flüche, ihre Sohlen fühlen nicht, daß sich der Kirchhof in einen Tanzplatz verwandelt hat.

So nimmt die wahre Osterprozession ihren Anfang. Etwas davon erfaßt auch die jungen Wilden zu beiden Seiten; der Lärm läßt nach.

Den Frauen folgen, in hellen Ornaten die Priester und Diakone, sieben an der Zahl. Doch wie beengt sie gehen, wie sie einander stoßen, einander stören: kaum bleibt Platz, den Weihrauchkessel zu schwingen, das Gebettuch zu heben. Und hier hätte — wäre ihm nicht abgeraten worden — der Patriarch von ganz Rußland durchgehen und zelebrieren sollen!

Zusammengepfercht und hastig ziehen sie vorbei; und damit schließt die Prozession. Da gibt es niemanden mehr! Keine Kirchgänger sind im Umzug, denn ein Durchbruch zurück in die Kirche gelänge nicht mehr.

Keine Betenden mehr, doch schon beginnt das Getümmel von neuem, die fröhliche Horde will auch hinein! Wie durch die zertrümmerten Tore eines Lagerhauses zwängen sich, stoßend und pressend, die Burschen und Mädchen, scheuem vorbei an den steinernen Säulen, vorwärts, rückwärts, kreisen im wirbelnden Strom und überstürzen sich, als gelte es, die Beute zu fassen, das

Geraubte zu teilen — und wozu? Sie wissen es selbst nicht. Die Popen begaffen und ihren Hokuspokus? Oder einfach harumrudem in der Menge? Geht es ihnen darum?

Eine Kreuzprozession ohne Betende! Eine Kreuzprozession ohne Betende, eine Kreuzprozession ohne Sich- bekreuzigende! Eine Kreuzprozession in Mützen, mit Zigaretten, mit Transistoren vor der Brust — die ersten Reihen dieses Publikums, wie sie sich hineinzwängen in die Umfriedung — das muß auch noch aufs Bild. Und damit wäre es vollständig. Abseits bekreuzigt sich eine der Alten und sagt zu ihrer Nachbarin: „Diesmal ist’s schön, gar kein Radau, und so viel Miliz…“

So ist das also! Dies Jahr ist noch ein besseres Jahr…

Was soll denn aus diesen von uns geborenen und aufgezogenen Millionen weiden? Wozu die aufklärerischen Bemühungen und die tröstlichen Prophezeiungen grübelnder Geister? Was erwarten wir Gutes von unserer Zukunft?

Wahrlich, eines Tages werden sie sich wenden und uns alle zertreten: und auch jene nicht verschonen, die sie hierhergehetzt!

10. April 1966, am ersten Tag des Osterfestes.

Alexander Solschenizyn, der letzte Nobelpreisträger für Literatur, ist bei uns vor allem durch seine autobiographischen Bücher „Der erste Kreis der Hölle“ und Crebsstation“ bekanntgeworden. Auch über seine Auseinandersetzungen mit dem Schriftstellerverband der UdSSR sowie das Drum und Dran der Nobelpreis-Verleihung ist ausführlich berichtet worden. Durch das vor kurzem in der Reihe „Bücher der Neunzehn“ veröffentlichte, erstmals beim Luchterhand-Verlag erschienene Sammelwerk „Im Interesse der Sache“ lernt man auch die Qualitäten und das reiche erzählerische Talent Solschenizyns kennen, der die pointierte Novelle, die Geschichte, die Skizze und die hintergründige Impression ebenso meisterhaft beherrscht wie den breitangelegten Erlebnisbericht. Besonders interessant sind die in diesem Band wiedergegebenen Prosastücke, die 1963 auch in der Zeitschrift „lXowyj Mir“ wiedergegeben wurden. „Ein Tag des Iwan Denissowitsch“ konnte in der Sowjetunion erscheinen, nicht aber „Die Osterprozession“… F.

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