6834002-1975_03_15.jpg
Digital In Arbeit

Die Pädagogik der neuen Linken

Werbung
Werbung
Werbung

Am 17. Juli 1962 veröffentlichte der damalige Professor für Pädagogik an der Universität Innsbruck, Wolfgang Brezinka, einen aufsehenerregenden Artikel gegen die noch in parlamentarischer Behandlung befindlichen österreichischen Schulgesetze 1962. Er meinte, man sei daran, unter dem Vorwand der „Demokratisierung” die Schulverwaltung in einem Ausmaß zu politisieren, wie es nur in „totalitär regierten Staaten” üblich ist. In „westlichen Ländern” dürfte das keine Partei versuchen, ohne ihr Ansehen einzubüßen. Die seither schon legendär gewordene „Koalition” war in den Augen des Professors so etwas wie das Diktaturregime einer einzigen Partei.

Nachher ging Professor Brezinka in ein westliches Land, in die BRD. Dort sollte er den Teufel, den er einmal in Österreich an die Wand gemalt hat, am Werk sehen. Mit Hilfe ■der Liberalen ist es in Westdeutschland der Linken bereits vielfach gelungen, dem „Rest” der Bevölkerung vorzuschreiben, wie deren Kinder im öffentlichen Unterricht erzogen und gebildet werden sollen. Dem führenden Kulturexperten der FDP, Professor von Cube, ist es dabei nicht so wichtig, ob das Ganze eine „Revolution” oder eine „Reform” wird. Wie neben einer traditionellen Linken eine aus dem Westen importierte Neue Linke tatsächlich einen Terror in der Kulturpolitik ausübt, das hat jedenfalls Professor Brezinka in der BRD so weit erlebt, daß er als Tatzeuge zur Aussage darüber berufen ist. Leser der „Furche” werden in dem vorliegenden Buch das im, Zusammenhang erfahren, was sie seit 1968 in ihrer Zeitschrift laufend und in Form einer dokumentarisch belegten Kritik gefunden haben.

Professor Brezinka untersucht, welches die Hauptpunkte der Pädagogik der Neuen Linken, also des Antriebsmechanismus der heutigen Schulreform der Linken in der freien Welt, sind. Deswegen gehört, glaube ich, das Buch in die Hand eines jeden Verantwortlichen, der entschlossen ist, in Österreich eine Wiederholung des Schulexperiments der traditionellen sowie der Neuen Linken und ihrer Mitläufer unter allen Umständen zu verhindern. Bei seiner Untersuchung geht der Autor von jener „Unzufriedenheit” aus, die während der sechziger Jahre in liberalen Demokratien des Westens Mode geworden ist. Er will seine kritische Einstellung zu diesem für die freie Welt folgenschweren Umdenken und Neudenken als ein „liberaler Konservativer” beziehen. Von dem dabei verwendeten Mischverhältnis von Liberalismus und Konservativismus und von der Frage, ob und inwieweit eine solche Vermischung überhaupt möglich sein kann, ist im folgenden nicht die Rede.

Vielmehr sei der Leser auf das vom Autor genau erkundete Phänomen der „Versuchung zur Selbstaufgabe” aufmerksam gemacht, dem eine „individuelle Demokratie” des Westens seitens einer gelungenen Herausforderung durch den Kommunismus und die radikale Linke unterliegt. Kurz gefaßt, eruiert Professor Brezinka Ursprünge der Neuen Linken in den USA, um dann die Verschmelzung dieser importierten Linken mit einer traditionellen „heimatlosen Linken” der BRD zu beschreiben. Wie nach 1945 diese Heimatlosen unter der Ägide des Amerikanismus ihr Comeback feiern konnten. Er nennt die in der FURCHE jeweils vorgestellten Lehrväter der Neuen Linken in Deutschland: Horkheimer, Adorno, Abendroth, ferner die Linkskatholiken Kogon (ehemals Wien) und Dirka sowie die Protestanten Pastor Niemöller und Goll- witzer. Und die Schriftsteller der „Gruppe 47” (Böll, Ingeborg Bachmann usw.), die weniger direkt politisch wirkten, dafür aber das geistige Klima in den selbstausgewähl- ten Eliten der Neuen Linken bestimmt haben.

Von den Aktionen der Neuen Linken zur Politisierung der Erziehung und der Pädagogik stellt der Autor zwei Hauptrichtungen heraus (Seite 93 ff.): Erstens die „linksliberalgesellschaftsutopische Richtung” mit ihrem Glauben an eine „emanzipierte Gesellschaft”. Darnach soll jedes Glied der Gesellschaft sich selbst be stimmen, um nachher auf eine mysteriöse Weise in einen sozialen Zusammenhalt mit den anderen von der Gesellschaft emanzipierten Individuen zu geraten. Fachausdruck ist: „Emanzipatorische Pädagogik.” Zweitens die „linksradikal-klas- senkämpferische Richtung”, die nach einer sogenannten „Befreiung” von’ bisherigen Autoritätsträgern den also „Befreiten” an die Autoritätsträger, im Sinne der Neuen Linken binden möchte. Fachausdruck dafür ist: „Sozialistische Pädagogik.”

Beide Richtungen haben genauso viel gemeinsam, wie Linksliberalismus und die im Anschluß an Marx entstandenen Richtungen grundsätzlich und unter allen Umständen gemeinsam haben. Das heißt, die Bestrebungen der sogenannten „Emanzipatorischen Pädagogik” müssen folgerichtig zuletzt in das münden, was man links von allem Anfang an und offen „Sozialistische Pädagogik” nennt. In diesem Zusammenhang ist eine Warnung des Autors von Bedeutung:

Viele Wortführer einer „Emanzi- patorischen Pädagogik”, unter denen sich zahlreiche katholische Exponenten befinden, können den Beitrag, den sie mit ihrem Experiment der „Sozialistischen Pädagogik” nolens volens liefern, überhaupt nicht ab- schätzen. Wollen es zum Teil nicht. Im Gegensatz zu ihnen wissen die Vorkämpfer der „Sozialistischen Pädagogik” genau, woran sie sind, was sie wollen und wofür sie „nützliche Idioten” einer „ideologiefreien, sachgerechten Pädagogik” und links- gedrąllte Mitläufer ausnützen können.

Der interessierte Leser findet in dem vorliegenden Buch eine Übersicht der Verlage. Zeitschriften und Informationsmittel, die ganz oder zum Teil im Dienst der Pädagogik der Neuen Linken stehen (S. 95 ff.). Der Österreicher, der diese Liste studiert, tut gut, zu bedenken, daß hierzulande vielfach das „in” wird, was gestern in der BRD schon „in” gewesen ist. An diesem pädagogischen Provinzialismus in Österreich sind, neben dem ORF, zum großen Teil Hochschullehrer beteiligt, die bei ihrem Kommen aus der BRD die fragliche Mode der Pädagogik der Neuen Linken nach Österreich einschleppen. So kamen auch hierzulande in rascher Folge Schlagworte und Programme wie: anti-autoritäre Erziehung, Revolutionierung von Schule und Gesellschaft mittels der Gesamtschule, Politisierung der Lehrpersonen, emanzipatorische Lehrpläne, Abschaffung des Geschichtsunterrichtes, Verpolitisierung des Politunter- richts usw. da und dort erfolgreich auf.

Die ÖVP hat nach 1962 ihre konservativen Kulturpolitiker in die Wüste geschickt. Um so vorurteilsloser kann sie daher den vorliegenden Ausführungen eines Wissenschafters begegnen, der aus seiner primär liberalen Herkunft kein Hehl macht. Nach dem Frontalzusammenstoß, den Professor Brezinka 1962 mit dem damaligen konservativen österreichischen Unterrichtsminister hatte, wird jetzt die ÖVP eher geneigt sein, dessen wissenschaftliche Erkenntnisse gegen die linksgedrallten Utopien der Linksüberholer ihrer Jungen Garde gründlich und sorgfältig abzuwägen.

Für jene, die unbeschwert von pädagogischen Utopien der Linken, in das Finale des Schulkampfes in Österreich treten oder eintreten müßten, faßt Professor Brezinka kurz und prägnant zusammen, was sie vom Bild des Menschen wissen sollten; von der Erziehungssituation hic et nunc; von den Zielen der Erziehung. Der Autor drängte auf die bisher oft versäumte „Klärung der Fronten” nach links hin, auf die Aufrüstung der Demokratie angesichts der Attentate und Manöver der Neuen Linken, auf den Widerstand gegen die von allen Richtungen des Sozialismus genährte „Kulturrevolution”. Der in Österreich beheimatete Berliner kennt unsere bedauerlichen moralischen Schwächen, unsere Furcht vor Entschiedenheit in fälligen Auseinandersetzungen und unseren Mangel an Zusammenhalt. Er deckt auf, zu welchen Folgen derlei Versagen in der BRD bereits geführt hat, und ich erwähne dazu einen weiteren wichtigen Aspekt:

Was würde es schließlich nützen, wenn es der ÖVP dank wirtschafts- und sozialpolitischer Zielsetzungen gelänge, Landtags- und Nationalratswahlen zu gewinnen, wenn ihr dabei aber die rechtzeitige und prägnante Unterscheidung zu Zielen, Methoden und Typen der Kulturpolitik der Linken abginge, wenn in ihren eigenen Reihen zum Teil Kulturpolitiker tätig sind, die erklärtermaßen eine teilweise Rezeption marxistischen Gedankenguts verlangen und marxistische Positionen also mit marxistischen Methoden angreifen wollen, wie das ihre Studentenpartei, die österreichische Studenten- Union, seit Ende der sechziger Jahre zu tun versucht? Christliche Demokraten, Katholiken, Menschen, für die Gott noch nicht tot ist, werden nach Lektüre des vorliegenden Buches besser gewahr werden, daß es jetzt bei der „Bildungsreform in Österreich” nicht um bloße Diskussionen zwecks Einigung im „Sachlichen” der Schulgesetzmaterie geht, sondern darum, ob gestützt auf eine hauchdünne parlamentarische Mehrheit der Linken, der Sozialismus in Schule und Gesellschaft verwirklicht werden soll. Schon hat diese momentane sozialistische Mehrheit die Legalisierung der Homosexualität sowie der Abtreibung heranzwingen können. Gegenüber den in den Schulgesetzen 1962 festgelegten Grundsätzen des österreichischen Bildungswesens wird allerdings die bloße Mechanik des Majorzsystems versagen, wenn die ÖVP ihren Posten bezieht. 1962 wollte eine schwächlich werdende SPÖ verhindern, daß nachher, ohne ihr Zutun, der Bestand der Schulgesetze mit einem ihr feindlichen Majorzsystems über den Haufen geworfen wird. Daher die notwendige Zweidrittelmehrheit für Schulgesetze. Jetzt, in der Klimax ihrer Machtausübung in der Republik Österreich, wird die Linke zur Kenntnis nehmen müssen, daß weder eine SPÖ-Alleinregierung noch eine linksgedrallte Kleine Koalition in Österreich in der Lage sein kann, dem österreichischen Bildungswesen unter der Tarnbezeichnung „fortschrittlich” die weltanschaulich-politischen Ziele einer „Sozialistischen Pädagogik” aufzuzwingen.

Unabhängig vom Ausgang der Nationalratswahl 1975 wird es auch nach dieser Wahl weiterhin so bleiben,

• daß es selbst eine eventuell neuerdings in die Opposition gedrängte ÖVP in der Hand hat, zu entscheiden,

• ob sie sich für eine Verwirklichung einer Bildungsideologie der Linken hergibt oder

• ob sie ohne Preisgabe von Grundsätzen die relative Einigung im Sachlichen erzwingen will.

Es geht bei all dem nicht nur um die Wahrung der Aufgabenstellung der österreichischen Schule im Sinne einer klassischen und christlichen Metaphysik (§ 2 Schulorganisationsgesetz 1962), sondern um die Verwirklichung dieses Programms. Die kompakte sozialistische Mehrheit des Wierser Gemeinderates hat bei der Regelung des Kindergartenwesens diesen „Zielparagraphen” der Schulgesetze 1962 sinngemäß übernommen. Trotzdem werden in den Wiener städtischen Kindergärten die Kinder im Vorschulalter in einem religionsfernen Sinn erzogen. Mag sein, daß fortschrittlich gesinnte Pädagogen katholischer Herkunft es lieber sehen, daß dem Menschen nicht schon im Kindesalter ein „Göttesglauben aufgezwungen” wird. Tatsache ist, daß in Wiener Kindergärten, soweit sie nicht konfessionelle sind, ohne Aufsehen die Entscheidung über die künftige Lebenspraxis und den dazu gehörenden Glauben der jetzt heran- wachsenden Jugend getroffen wird und daß das elternlose Erziehungssystem der Industriegesellschaft diesen Trend zu einer um sich greifenden Gottlosigkeit noch fördert.

Et respice finem. Professor Brezinka zeigt die, Notwendigkeit einer vorausschauenden Schulpolitik auf. Wenn auch nicht aus einer religiösen oder konservativen Grundeinstellung, so doch mit der Absage an eine sogenannte Realpolitik, für die eine sozialistische Pädagogik sowie der Rechenstift der Weisheit letzter Schluß ist.

ERZIEHUNG UND KULTURREVOLUTION. Die Pädagogik der Neuen Linken. Von Wolfgang Brezinka. Ernst-Reinhardt-Verlag, München-Basel 1974, 267 Seiten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung