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Die Patrone der Wiener

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„Politische Kultur in Österreich“ ist das Thema der kürzlich präsentierten Festschrift für Heinrich Schneider. Gerade Wien zeigt besondere Auffälligkeiten und Tendenzen.

Patronage ist ein universelles Phänomen. Patronagebeziehungen sind durch bestimmte Muster gekennzeichnet, bei denen Loyalitäten gegen spezifische Leistungen getauscht werden. In Wien gibt es wie überall anders auch Makro- und Mikropatronage, je nachdem ob ganze Gruppen oder Institutionen Vorteile erhalten oder einzelne Individuen. Hier soll die Mikropatronage im Mittelpunkt stehen, weil sie in ihrem massenhaften Auftreten für die Wiener politische Alltagskultur typisch ist und eine der wichtigsten Entscheidungskontexte für Einstellungen der Bürger gegenüber Institutionen ist.

In Wien gibt es ein relativ hohes Durchschnittsniveau der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen. Dieses Durchschnittsniveau kann von den meisten Bürgern relativ leicht erreicht und auch gehalten werden. Will man hingegen Leistungen über dem Normniveau,wie zum Beispiel einen besonderen Posten, eine Gemeindewohnung in einer bestimmten Lage oder innerhalb kurzer Frist, eine Behandlung in einem bestimmten Spital oder die Unterbringung in einem bestimmten Altersheim, dann ist die Intervention eine notwendige Vorbedingung. Für „Wiener“ Interventionen ist dabei charakteristisch, daß sie offizielle und inoffizielle Vorgangsweisen mischen. Klare Gesetzwidrigkeiten werden sich selten feststellen lassen.

Ein üblicher Kanal für die „kleinen Leute“ ist die Vorsprache in der Sprechstunde des jeweiligen Bezirksvorstehers. Nach unseren Daten (Interviews, Juni 1988) werden pro Jahr 80.000 Interventions wünsche an die Bezirksvorsteher herangetragen, zirka 30 bis 40 Prozent davon betreffen Mietangelegenheiten. Die Erfolgschancen der Interventionen hangen vom politischen Gewicht des Bezirksvorstehers ab. Zusätzlich werden zirka 5.000 Hilfsersuchen von den Gemeinderäten behandelt und einige tausend von den zentralen Institutionen. Die „großen Brocken“ wie Betriebsansiedlungen, Großbauvorhaben werden den wichtigsten politischen Rollenträgern (Bürgermeister, Finanzstadtrat) vorbehalten.

Neben diesem Interventionssystem, das überwiegend „offiziell“ ist, existiert noch ein unglaublich weitverbreitetes Interventionsnetz, das über die Kanäle der Parteien läuft Auf Grund ihrer traditionellen Vormachtstellung ist der Hauptinterventionskanal die SPÖ, welcher aber bestimmte „Interventionskontingente“ an die ÖVP abtritt (Interviews, Juni/Juli 1986). Der übliche Interventionsweg für die kleinen Leute führt über den Parteikassier, welcher die Interventions ersuchen entgegennimmt und an die ent-sp rech enden Parteistellen weiterleitet Der Rahmen solcher Ersuchen ist dabei sehr weit gesteckt, erreicht von Wohnungsproblemen zu Interventionen in laufende Behördenverfahren (zum Beisp iel die Erreichung eines günstigen Gutachtens in Adoptionsverfahren). Nach den von uns erhobenen empirischen Daten werden pro Jahr etwa 300.000 Interventionsansuchen durch die Parteikanäle geleitet. Das würde bedeuten, daß pro Parteimitglied eine Intervention pro Jahr unternommen wird (SPÖ: 220.000 Mitglieder, ÖVP 55.000). Die Regel scheint zu lauten „alles geht“.

Die wichtigsten Interventionsf eider sind der Wohnungs- und der Arbeitsmarkt. In beiden Fällen gibt es eine Mischung zwischen offiziellen und inoffiziellen Prozeduren, allerdings mit einem starken Übergewicht der informellen Komponente. Bei der Vergabe von Gemeindewohnungen gibt es festgelegte Kriterien, die ein Wohnungswerber erfüllen muß. Die Bezugsberechtigung wird durch die Ausstellung eines sogenannten Vormerkscheines dokumentiert. Gegenwärtig gibt es zirka 19.000 Inhaber von Vormerkscheinen, die durchschnittliche Wartezeit ist drei Jahre.

Ähnlich ist die Situation bei den Pflichtschullehrern. Stellenlose Absolventen der Pädagogischen Akademien werden je nachFachausbildung und Einlangen des Ansuchens auf eine Liste gesetzt Die durchschnittliche Wartezeit beträgt ein Jahr, zirka 100 Absolventen warten auf eine Anstellung. In der Praxis kommt es aber zu häufigen Durchbrechungen der zeitlichen Priorität; im Fall der Pflichtschullehrstellen in zirka 50 Prozent der Ansuchen (ZV Lehrerzeitung. Schwerpunkt Junglehrer, 1985).

Bei der Vergabe von GemeindeWohnungen entscheiden über Interventionsansuchen die Beamten der MA 50, bei der Vergabe der Pflicht-schullehrerp osten im Interventionsweg eine kleine Gruppe von Spitzenfunktionären des (sozialistischen) Zentralvereins, einer Interessenvereinigung der Lehrer. Die sogenannten Wartelisten sind das bestgehütete Geheimnis der Republik und müssen es auch sein, weil mit der öffentlichen Einschaubarke it die Möglichkeit zur Umgehung der Warteschlange stark verringert wäre.

Diese Situation spiegelt sich auch in den Ergebnissen der Meinungsforschung wider: Nach einer Fessel-LFES -Umfrage aus dem Jahre 1982 wünschen sich 44 Prozent der Befragten mehr Parteieinfluß im Wohnungswesen und 42 Prozent am Arbeitsmarkt. 28 beziehungsweise 39 Prozent der Befragtenhieltenden gegenwärtigen Einfluß der Parteien für gerade angemessen. Bekanntlich schreiben auch Parteimitglieder selbst ihren Parteifreunden vorwiegend materielle Motive für den Parteieintritt zu. Paradoxerweise ist dieses System nicht unbedingt undemokratisch, da die Zugangschancen zum Interventionssystem sehr günstig und relativ gleich verteilt sind. Jeder fünfte Wiener Wahlbürger ist Mitglied einer der beiden Großparteien, die Chance, entweder direkt oder in wenigen Schritten zu einer einflußreichen Stelle zu gelangen, ist daher relativ groß. Aus diesem Interventionssystem fallen diejenigen, die sozial isoliert sind (wahrscheinlich viele alte und alleinstehende Personen), zu scheu sind, um die Eingangsbarrieren zu durchbrechen oder die noch nicht genügend sozial verankert sind, um Zugang über Bekanntschaften zu haben (in- und ausländische Zuzügler).

Betrachtet man die Beziehungen zwischen den Parteien und ihren Mitgliedernbeziehungsweise Klientelen über einen längeren Zeitraum, dann fällt eine dramatische Änderung in den Machtbalancen ins Auge.

In den dreißiger Jahren waren die Parteien allumfassende soziale Gruppen, Sport- und Geselligkeitsvereine, militärische Gruppen, Wohnverbände und politische Vereinigungen. Heute ist ihre Funktion auf Dienstleistungen reduziert, die sie im Austausch für abstrakte Loyalität erbringen. Die Loyalität ist dabei kaum mehr kontrollierbar. Zwar wurde noch während der letzten Gemeinderatswahl in Wien (8.November 1987) die gesetzwidrige Praxis der Wahlbeisitzer der Parteien beibehalten (diese haben die Aufgabe, Wählerlisten zu führen, um gezielt die Nicht Wähler zum Wahlakt überreden zu können), aber die vergleichsweise niedrige Wahlbeteiligung (62,9 Prozent) zeigt, daß das Stimmrecht auch in Wien zunehmend als Recht verstanden wird und nicht als moralisch-staatsbürgerliche Pflicht

In den fünziger und sechziger Jahren war die Beteiligung an Parteifesten (vor allem am 1. Mai) noch sehr rege, und die soziale Kontrolle verlief über die Feststellung der Anwesenheit (Augenkontrolle). Nach einer von uns durchgeführten Stichprobe (ein Gemeindebau im 20. Bezirk) waren vor 20 Jahren noch 90 Prozent der Wohnungen mit den Parteiflaggen geschmückt, am 1. Mai 1988 waren es nur mehr 2,47 Prozent (von 324 Wohnungen). Die Hälfte der „Flaggenzeiger“ waren SPÖ-Funktionäre. Parteikassiere meinen (Interviews, Juni 1988), daß es den Leuten bereits so gut ginge, daß sie auf die Partei nicht mehr angewiesen seien. Die Partei werde als Supermarkt gesehen, in den man gehen oder auch nicht gehen könne.

Diese Aussagen erscheinen im Lichte der Wirtschaftsdaten sehr plausibel. Die Durchschnittseinkommen sind gegenüber den fünfziger und sechziger Jahren stark gestiegen. Es gibt viele Möglichkeiten, Bedürfnisse wie Wohnungen oder Autokauf ohne Hilfe der Familie oder politischer Parteien zu decken. Nach den Daten über die Vergabe kommerzieller Kredite in Wien nehmen nicht einmal 3 0 Prozent der Bevölkerung Kredite in Anspruch, davon 35 Prozent der freien Berufe, 34 Prozent der Gewerbetreibenden, 23 Prozent der Beamten und 21 Prozent der Arbeiter (Unveröffentlichte Umfrage der Wiener Kreditinstitute, 1987).

Der Autor ist Fr ofesaor für PoUtikwiwenschalt in Wien. Der Beitrag ist ein Auazug aus „Politische Kultur in Wen*, Seite 18 bis 27 in der Festschrift.

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