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Die perfekte Entmündigung

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Kaum von seinem Besuch bei der ČSSR-Spitze zurückgekehrt, beeilte sich jüngst Erich Honecker, bekanntzugeben, wie tief ihn der „freundschaftliche Empfang“ des Volkes der ČSSR beeindruckt habe. Stattgefunden hatte, außer den internen Sitzungen der jeweiligen Partei- und Regierungsdelegationen, lediglich eine Veranstaltung im Lucernasaal, bei der wiederum nur geladene Gäste Zutritt hatten. Eindrücke dieser Art hinterlassen auch die Verantwortlichen der ČSSR, wenn sie in einem der „Bruderländer“ zu Besuch weilten oder von ihnen, allen voran Breschnjew selbst, besucht werden. Niemand glaubt daran, keiner hat je Druckstellen hinterlassen oder empfangen. Es waren ja auch nur Händedrücke der Genossen untereinander.

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Kaum von seinem Besuch bei der ČSSR-Spitze zurückgekehrt, beeilte sich jüngst Erich Honecker, bekanntzugeben, wie tief ihn der „freundschaftliche Empfang“ des Volkes der ČSSR beeindruckt habe. Stattgefunden hatte, außer den internen Sitzungen der jeweiligen Partei- und Regierungsdelegationen, lediglich eine Veranstaltung im Lucernasaal, bei der wiederum nur geladene Gäste Zutritt hatten. Eindrücke dieser Art hinterlassen auch die Verantwortlichen der ČSSR, wenn sie in einem der „Bruderländer“ zu Besuch weilten oder von ihnen, allen voran Breschnjew selbst, besucht werden. Niemand glaubt daran, keiner hat je Druckstellen hinterlassen oder empfangen. Es waren ja auch nur Händedrücke der Genossen untereinander.

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Die Bürger der ČSSR haben, was solche öffentlich beglaubigten und doch total unglaubwürdigen Engagements angeht, zwei besonders bewegte und meist genau entgegengesetzte Erinnerungen, als offiziell bekanntgegeben, hervorrufende Jahre hiimter sich. 1973: ein Vierteljahrhundert Sieg des Kommunismus, nachdem die letzte Koalitionsregierung gesprengt worden war und 1974, vor allem in den vergangenen Monaten kulminierend, Erinnerung an den kommunistischen Partisanenkampf in der Slowakei mit dem Einstieg über den Duklapaß. In beiden Fällen waren es die in Moskau geschulten und von diesem ausgerüsteten Matadore und Partisanen, deren Rückhalt dm Volk so gering war, daß nach kurzen Anfangserfolgen der Partisanen das von den Deutschen protegierte Tiso-Regime in der Slowakei bis zum endgültigen Zusammenbruch der Front 1945 das Heft in der Hand behielt (Es ist übrigens noch heute bei fast jedermann in guter Erinnerung.)

Während die Böhmen dieses Jahr von spektakulären Regional„feiem“ verschont blieben, mußten ihre slowakischen Vettern, aus und in deren Mitte immerhin Dubček stammt und lebt die ganze Last der öffentlichen Heuchelei auf sich nehmen. Sie gipfelte in der Einweihung eines Monumentaldenkmals im Herzen von Bratislava — natürlich zur Erinnerung Mi eben jenes Buklapaß-Ereignis. Ein überlebensgroßer Partisan, zwei nicht minder respektgebietende slowakische Bäuerinnen — sie beherrschen nun das Feld, das zwischen Post und Spital bisher Blumenrabatten Vorbehalten war. Der überdimensionale Partisanenfuß, neben dem der Gast sich plötzlich als Zwerg unter dem Riesen Gulliver vorkommt, ist wohl das nachdrücklichste Symbol für die fremde Macht, die dort, unter Ausnützung slawophiler Hoffnungen, über den Duklapaß schritt und ein ganzes Land unter ihrem Stiefel hält. Schulkinder sind die einzigen, die man hm und wieder verlegen-gelangweilt in Gruppen vor dieser Bronzeverschwendung herumstehen sieht. Nicht einmal sie hören auf das, was ihnen der ergraute Lehrer aus dem hektographierten Pflichtsoll an Geschichtsklitterung vorträgt. Er weiß natürlich aus eigener Erfahrung, daß es anders war.

Diese Schizophrenie zwischen auferlegter Unwahrheit und gewußter Wahrheit, an die aich der Einheimische schon so gewöhnt zu haben scheint, daß er sie kaum noch anders als den normalen Wechsel von Nacht und Tag registriert, legt sich dem Besucher, der als Freund der Menschen hinkommt, immer wieder, und mit den Jahren nur noch zunehmend, ęls schwerer Mühlstein um den Hals. Da er gewohnt ist, ein Wart in den öffentlichen Dingen mitreden zu können, bedrückt ihn diese Luft ohne politischem Sauerstoff so, daß er oft dem Ersticken nahe ist.

Zurück in die Familien

Nie war die politische Entmündigung von Tschechen und Slowaken, bei allem Wechselgeschick der Jahrhunderte, so perfekt und die Fremdsteuerung so lückenlos wie jetzt Was weder Wien und Budapest noch Deutschen und Hussiten, ja, nicht einmal den Stalinisten der Gottwald- Ära gelungen ist: absolute Gleichgültigkeit gegenüber allem, was den Bereich der eigenen, sorgsam abgeschirmten vier Wände übersteigt — jetzt, sechs Jahre nach der bedingungslosen Unterwerfung des Landes, ist es perfekt. Die vorgehaltene

Hand, nicht die emporgereckte Paust, ist das Erkennungszeichen. Das fällt so geselligen Völkern wie Tschechen und Slowaken, die beide gern poku- lieren und diskutieren, schwer, und eine merkwürdige Mischung von Fluchten in die und aus der öffent-

lichkeit ist die Folge. Cafes, Kinos, Restaurants, Bars — alles ist brechend voll. Der für diie meisten frühe Arbeitsschluß ermöglicht es. Ebenso aber, und noch stärker, konzentriert sich das Leben in den Familien, wenngleich die geselligen Abende, eben wegen des frühen Arbeitsbeginns, auch meist früh enden. Wer es irgend kann, hört und sieht westliche Nachrichten, Krimis und amerikanische Filme aus Opas Zeiten. Von Westböhmen bis in die westliche Slowakei wird westdeutsches und österreichisches Fernsehen und Radio gesehen und gehört. Völlig verständnislos — um beim westdeutschen Fernsehen zu bleiben — steht man jenen Salonsozialisten gegenüber, die an der freiheitlichen Demokratie ihres eigenen Landes kein gutes Haar lassen und damit den kommunistischen Einpeitschern höchst willkommene Schützenhilfe leisten. Der Name Merseburger steht hier für eine ganze Richtung, die man erbittert als Verrat an denen registriert, die unter dem großen Partisanenstie- fel leben müssen. Ostpolitik — das Wort schon löst verlegen-gequältes Lächeln aus. Westliche Waren, von der amerikanischen Zigarette bis zum Fiat-Auto, bekam man schon seit Jahren, ohne alle politischen Konzessionen des Westens. Die Kaufleute waren schneller und handelten härter, wo die Politiker mit ihrem Um- jeden-Preis-Traktieren nur an Ort und Stelle treten.

Man ist untereinander freundlich. Keiner hat viel mehr als der andere, Arroganz oder Angeberei lohnen sich nicht. Die intaktere Mitmensch- l’ichkait, die der Gast aus dem Westen immer aufs neue erlebt und die ihn problemslos mit einbezieht: sie ist zwar durch gemeinsam erlittenen Druck verstärkt, in erster Linde aber doch wohl zugewachsenes Erbteil von Tschechen und Slowaken, die unter den verschiedensten Regimen eine hohe Lebenskunst entwickelten. Daß österreichische Lebensart dabei kräftig mitmischt, ist — immerhin zwei Menschenalter nach dem Ende der Monarchie — unverkennbar. Wien, nicht etwa Bonn oder gar Bern, ist noch immer das heimliche

Herz der CSSR. Es stimmt also nicht, wenn man dem angeblichen Fehlen von Streß und Strapazen ä la Westen in erster Linie diese reinlicher sprudelnden Quellen der Mitmenschlichkeit zaaschreibt. Im übrigen sind diese beiden unwillkommenen Gesellen, Streß und Strapazen, dem Bürger „Osteuropas, der in etwas Würde und bescheidenem Wohlstand leben will, bereits seit drei Jahrzehnten getreue Begleiter. Natürliches Temperament, historische Schulübungen und ein Leben unter dem Stiefel mit der vorgehaltenen Hand: ihnen und nicht dem „Glück“, in einem kommunistischen Land leben zu dürfen, verdankt sich die un- gemein ansteckende und leicht zu falschen Schlüssen führende Lebens- tüchtigkedt, Däseinsfreude und Kontaktfreudigkeit hierzulande. Jener Besucher — und ihrer gibt es übergenug — hat diesen fröhlichsten Friedhof der Welt nur von der Schwelle aus gesehen, der nach fünftägigem Aufenthalt in der CSSR daheim lauthals verkündete, wie gut es den Menschen dort gehe. Sechs Jahre’ nach dem zweiten politischen Tod des Landes innerhalb von zwei Jahrzehnten kann man wohl auch darum ausgelassen sein, weil man politisch kaum mehr etwas zu verlieren hat und darum jeden Zugewinn an Wohlstand stellvertretend für einen Zugang an persönlicher Freiheit bucht.

Lustlose Besserung

Es geht ihnen besser, den Tschechen und Slowaken — ehrlicherweise müßte man hinzufügen: den Deutschen, Ungarn und nicht zuletzt auch den Zigeunern, die im Land wohnen. Langsam, aber unübersehbar steigen die Löhne und eine normale Verdienerin braucht „nur“ noch drei, statt früher vier bis fünf Stunden für ein Paar Strumpfhosen und ein Installateur oder Maler „nur“ noch einen halben, statt, wie früher, einen ganzen Monat für einen passablen Anzug zu arbeiten. Der Verkehr nimmt rasch zu, selbst auf den Zebrastrei-

fen -hat der Motorisierte unwidersprochen Vortritt. Die Mieten bleiben anhaltend preiswert — billig waren sie nie, vor allem an dem Wohnungsstandard gemessen. Immerhin kostet eine Vierzimmerwohnung in etwas ruhigerer Lage in Bratislava, ohne Heizung und Nebenkosten, fast fünfhundert Kronen, während der gesamte Familienverdienst selten die 3000 übersteigt. Billig sind Dienstleistungen aller Art, vom Autobus bis hin zum Studium. Die Schulen bieten vom 15. Lebensjahr an sehr vielfältige und auf die spätere Ausbildung zugeschnittene Möglichkeiten. Das Gesundheitswesen ist — von den obligaten Trinkgeldern abgesehen — gratis und funktioniert, nach dem Aderlaß durch die Emigration, noch etwas mühsam. In den Städten wird viel restauriert, wobei man sehr improvisatorisch abstützt und absichert. Als Fußgänger -hat man oft den Eindruck, gerade gestern sei der Beruf von Maurern, Gerüstbauern und Anstreichern ln diesem Land plötzlich zugelassen worden, mit solchen Feuereifer versucht man, deni jahrzehntelang vernachlässigten Altbau zu retten. Wer dann aber in Dörfern und Kleinstädten zahllose schmucke Einfamilienhäuser sieht, weiß, daß die Kunst des sorgfältigen Bauens nie erstorben war. Woher freilich das Baumaterial zu diesen Häusern stammt, kann er nur dunkel ahnen.

Es geht ihnen besser, aber sie wissen, daß jeder Vergleich mit dem,

was man im Westen unter bescheidenem Wohlstand versteht, zu ihren Ungunsten ausfällt. Es ist ihnen täglich durch Funk, Fernsehen und Fremde vor Ohren und Augen. Die hoffnungslose Distanz zwischen der normalen Hausfrau ln einer böhmischen Kleinstadt und einer solchen, in einem österreichischen Flecken ist ihnen nur zu sehr bewußt. Anderes Beispiel: die Bahnen. Der Berichterstatter benutzte diesmal statt des eigenen Wagens den Zug. Bald hinter der Grenze gesellte sich ihm ein dienstfreier Eisenbahner hinzu. Der Schmutz in und an den Zügen? Die langen Wartezeiten? Die chronische Überfüllung? Der Mann zog mit schiefem Lächeln die Schultern hoch. Soll heißen: wer wird in diesem Land, unter diesem Regime denn schon mehr als unbedingt nötig arbeiten? Das ist die häufigste, wenn auch meist nur in Chiffren gegebene Antwort auf die Fragen nach den tausend Unzulänglichkeiten: den Untiefen auf den Bürgersteigen bei Schlechtwetter, dem Schneckentempo im staatlichen Autoservice, der total überrepräsentierten Polizei — vor dem neuen Hotel „Kijew“ in Bratislava bis zu drei Mann — und dem logischerweise nicht aufhörenden Klagegesang, die vorhandenen Arbeitskräfte reichten nicht aus. Wie sollten sie auch, bei so ehrgeizigen Industrialisierungsplänen und so geringer Arbeitslust?

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