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Die Pfarren verändern

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In zwei Jahren soll Wiener Neustadt dem Erdboden gleichgemacht werden. Nach den Urhebern dieses wahrhaft teuflischen Planes, sollen am Neujahrstag 1984 über der Stadt einige Neutronenbomben abgeworfen werden, die zwei Drittel der Einwohnerschaft binnen Minuten töten, den Rest zu lebenslangem Siechtum verurteilen sollen.

Eine Horrorvision, zugegeben. Doch sie gibt es in der Wirklichkeit. Denn jedes zweite Jahr wird die Kirche Österreichs durch Austritte — rund zwanzigtausend Katholiken im Jahr — um die ungefähre Einwohnerzahl von Wiener Neustadt entvölkert. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen.

Rechnen wir zu den Ausgetretenen auch noch die Weggetretenen hinzu, die Dunkelziffer kirchlicher Karteileichen, wird das Bild zusätzlich düster. Freilich: der Vorgang hatte seine Schockwirkung schon längst eingebüßt; schließlich wird die Lücke durch Neugeborene reichlich ausgefüllt. Nur: der Ausgetretene denkt sich etwas bei seinem Schritt, das getaufte Kleinkind nicht. Oft genug auch die Eltern nicht: für die meisten von ihnen ist die Taufe ohnehin ein gesellschaftlicher und kein Glaubensakt.

Seit rund siebzehn Jahren leite ich zwei niederösterreichische Pfarrgemeirjden in der Nähe Wiens: Reisenberg und Seibersdorf. Von den rund 1400 Katholiken traten in dieser Zeitspanne lediglich zwei Getaufte aus ihrer Kirche aus. Der eine konnte mittlerweile wieder zurückgewonnen werden. Um so mehr betrübt es mich, daß die Zahl der Kirchenaustritte in unserem Ort in der letzten Zeit schlagartig angestiegen ist. Die Quote: durchschnittlich ein Austritt pro Monat.

Der Grund: seit einigen Jahren gibt es, etwa zwei Kilometer von Reisenber£ entfernt, eine Badesiedlung Wkit Ferienhäusern, in denen zahlreiche Wiener Familien ihren Feriensitz und ein Teil auch seinen ständigen Wohnsitz bezogen haben.

Damit schiebt sich aber auch die religiöse Wüste Wien in unser Gebiet vor: auf meinem Schreibtisch häufen sich die Austrittsdepeschen der Bezirkshauptmannschaft. Was tun?

Natürlich bleibt es unsere Aufgabe, diese Katholiken nach Möglichkeit in unsere Pfarrgemeinschaft einzugliedern und durch unser Zeugnis zu einer Neuerwek-kung ihres Glaubenslebens hinzuführen.

Dies ist uns teilweise auch gelungen: Laut eigener Aussage nehmen viele Wiener nach Jahren der „Funkstille" wieder Kontakt mit der Kirche auf, besuchen unsere Gottesdienste und versuchen sich auch aktiv in das Pfarrleben einzuschalten. Aber ihre Zahl bleibt klein.

Es ist hier nicht der Ort, die geschichtlichen, politischen und gesellschaftlichen Ursachen der Entfremdung der Großstadtbewohner (freilich auch zum Teil der Bewohner ländlicher Gemeinden) von ihrer Kirche anzuführen. Als ihr Ergebnis muß jedenfalls eine von törichten Schlagwörtern, Ressentiments und Vorurteilen geprägte, tiefgreifende religiöse Unwissenheit festgestellt werden.

Wie soll das abgebaut werden?

Eine der Ursachen dieser Entwicklung ist sicher unser fehlendes Zeugnis, die mangelnde Uberzeugungskraft selbst engagierter Christen. Aber es handelt sich auch um ein Strukturproblem, das wir, über das Bedauern und das resignierende Hinnehmen hinaus, endlich erkennen und aufgrund dessen wir radikale Veränderungen versuchen sollten.

Es ist nicht neu zu behaupten, daß sowohl die städtische Mammutpfarre, als auch die ländliche Pfarrgemeinde durch die geschichtliche Prägung der Pfarrstruktur kein oder nur ein äußerst mangelhaftes Gemeinschaftsbewußtsein aufkommen lassen. Die Zahl der Katholiken ist zu groß, der Priester, durch den Priestermangel bedingt, immer weniger präsent, vielfach auch überfordert, und die Mündigkeit selbstinitiativer Christen — trotz mancher gutfunktionierender Pfarrgemeinderäte — nur rudimentär entwickelt.

Wir errichten zwar in einer jeden neu entstehenden Wohnsiedlung mit viel Opfer und finanziellem Aufwand Pfarrzentren, was uns aber fehlt, ist die gleichzeitige, bewußte und planmäßig durchgeführte Dezentralisierung der Pfarre selbst, durch eine vom Gesamtepiskopat eingeleitete und geförderte Basisgemeinden-Bewegung.

Nur Pfarren, die sich künftig als die Klammer vieler kirchlicher Kleingemeinschaften innerhalb ihrer Grenzen verstehen, werden die unpersönliche Note der heutigen Pfarrstruktur abbauen, die Menschen in die Gemeinschaft stärker einbinden und ihnen das , Gefühl der Mitverantwortung geben können. Nur sie können Ausgetretene und Weggetretene wieder anlocken und zur Wiederentdeckung einer echten Glaubensfreude motivieren.

Ein Vorgang, der übrigens schon längst erfunden und durch großartige Erfolge bestätigt wurde. Paradebeispiel dafür ist Lateinamerika, vor allem Brasilien.

Die Errichtung der kirchlichen Basisgemeinschaften wurde von der brasilianischen Bischofskonferenz als die schlechthin dringende Aufgabe der Bischöfe bezeichnet. Das Ziel war und ist, anstelle der bisherigen noch immer administrativ-juristisch geprägten Pfarrstruktur lebendige Pfarrgemeinschaften zu schaffen. Der Erfolg kann sich mittlerweile sehen lassen. Die gesamtlateinamerikanische Bischofskonferenz von Medellin hatte die Basisgemeinschaften für ganz Lateinamerika adaptiert.

Nicht ohne Stolz wird in dem Dokument von Medellin (Kap. 6, 13-14), aber auch später immer wieder darauf hingewiesen, daß im Gegensatz zu Europa, wo die Entstehung der Basisgemeinschaften lediglich dem Zufall, sprich: der Initiative des Volkes oder irgendwelcher Erneuerungsbewegungen (Cursillo, Fokolare, Lombardi-Bewegung usw.7, überlassen und von den Bischöfen mit Skepsis betrachtet wird, in Lateinamerika, vor allem in Brasilien, diese Initiative von den Bischöfen ausgegangen ist und damit ihre kirchliche Legitimation erhielt.

Natürlich sind da einige Hemmschwellen abzubauen. Die verborgene Angst vor der Mündigkeit des Laien, die Gewöhnung an das Bild der bisherigen Pfarrstruktur und die mangelnde theologische Vorarbeit in der Adaptierung des nachkonziliaren Kirchenbildes stehen uns noch im Weg. Umsomehr wäre es ein dem kommenden Katholikentag angemessener Beschluß der österreichischen Bischofskonferenz, wenn sie zur Erneuerung der Kirche Österreichs zur planmäßigen Weckung kirchlicher Basisgemeinschaften in unseren Pfarreien schreiten würde. Es wäre ein echtes Zeichen der Hoffnung für die Zukunft der Kirche in unserem Land.

Es ist sicher noch nicht zu spät diese Initiative zu ergreifen und damit die kirchliche Integration der wenigen vorhandenen und der vielen noch zu erweckenden kirchlichen Basisgemeinden in den Pfarren von vornherein abzusichern.

Nach entsprechender theologischer Vorarbeit bzw. Adaption der lateinamerikanischen Erfahrungen auf unsere Verhältnisse sowie einer eingehenden Information des Klerus, der Pfarrgemeinderäte (wobei Ängste und Vorbehalte abzubauen wären), könnte in einer großangelegten Bewußtseins-Kampagne (Dekanatskonferenz, Pfarrversammlungen usw.) die Idee an die Basis getragen und populär gemacht werden.

Den Rest sollten wir (müssen wir wohl auch) Gottes lebendigem und lebendigmachendem Pfingst-geist überlassen.

Muß Wiener Neustadt wirklich fortwährend ausgerottet werden?

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