6831015-1974_39_05.jpg
Digital In Arbeit

Die politischen Galapagos-Inseln

19451960198020002020

Österreich hat für die Politologie ungefähr die Bedeutung (und auch das Image) der Galapagos-Inseln für die Verhaltensforschung: Bestimmte politische Verhaltensweisen, die mittlerweile Seltenheitswert erlangt haben, können hier noch studiert werden. Jetzt noch, aber vielleicht nicht mehr allzu lange. So ist es nun einmal mit dem Brauchtum entlegener Völkerschaften — kaum hat man sie entdeckt und beginnt sie zu erforschen, da ergreift auch schon die moderne Zeit von ihnen Besitz, und alles wird anders.

19451960198020002020

Österreich hat für die Politologie ungefähr die Bedeutung (und auch das Image) der Galapagos-Inseln für die Verhaltensforschung: Bestimmte politische Verhaltensweisen, die mittlerweile Seltenheitswert erlangt haben, können hier noch studiert werden. Jetzt noch, aber vielleicht nicht mehr allzu lange. So ist es nun einmal mit dem Brauchtum entlegener Völkerschaften — kaum hat man sie entdeckt und beginnt sie zu erforschen, da ergreift auch schon die moderne Zeit von ihnen Besitz, und alles wird anders.

Werbung
Werbung
Werbung

Scherz beiseite: Gerade die große Oppositionspartei sollte den Aufsatz „Politisches Verhalten und öffentliche Meinung in Österreich”, Erster Teil, wo vorerst nur vom politischen Verhalten die Rede ist, sehr sorgfältig studieren — nachzulesen im „Journal für angewandte Sozialfor- schung”. Was da ein Roter über Rote und Schwarze in Österreich sagt, klingt nur zu überzeugend — besser gesagt: würde auch überzeugend klingen, wäre es nicht mit entsprechendem Zahlenmaterial untermauert.

Die Kernthese des Autors lautet, daß neuerdings die beiden großen politischen Lager Österreichs einem

Erosionsprozeß unterliegen, daß aber für die ÖVP zusätzlich noch ein Schrumpfungsprozeß ihrer Wähler- schidhten durch den sozialen Strukturwandel hinzukommt.

Ein halbes Jahrhundert lang glichen Österreichs politische Lager mächtigen Eisbergen, deren Masse durch oberflächliche Schmelzprozesse lange Zeit kaum vermindert wurde: „1919 erhielten die Sozialdemokraten ebenso viele Mandate im Nationalrat wie 1930, nach einem Jahrzehnt erbitterten sozialen Kampfes. 1945, nach Krieg, Ausrottung einer ganzen Volksgruppe und elfjähriger Illegalität etwa ebenso viele Stimmen wie 1930.”

Den einzigen tiefergehenden Wandel in diesen fünf Jahrzehnten registriert Konecny 1949 — damals gelang es den Sozialisten in einigen Bundesländern, unter denen wohl vor allem Kärnten hervorragt, ehemalige NSDAP-Mitiglieder zu gewinnen, sie auf Dauer dem bürgerlichen Lager zu entziehen und an sich zu binden. Wobei einer der schwachen Punkte dieser ansonsten brillanten Analyse darin zu sehen ist, daß Konecny kurzerhand ÖVP und FPÖ (bzw. deren Vorgänger VdU) zu einem „bürgerlichen Lager” zusammenschließt, was mit der Herkunft der Anhänger, „freilich nicht nach der aktuell-politischen Orientierung dieser Gruppe”, zulässig sei. Diese Zulässigkeit erscheint etwas löcherig, wenn man an das Landproletariat denkt.

Immerhin bewiesen diese beiden großen Lager eine erstaunliche Stabilität, deren Ausmaß deutlich herausgearbeitet erscheint. Konecny gibt folgende Zahlen für die Brutto- veränderungen der Stimmenanteile aller kandidierenden Parteien an, wobei er sich auf Karl Blecha („Anatomie einer Wahl”, 1970) stützt:

Der Erdrutsch des Jahres 1970 erscheint dabei um so eindrucksvoller, wenn man berücksichtigt, daß frühere Spitzenmobilitäten der österreichischen Wähler Gründe zu haben scheinen, die eben diese Mobilität etwas relativieren: 1956 entglitt, meint Konecny, das Wählerpotential des VdU der neuen Freiheitlichen Partei und ging zum Teil auf die ÖVP über, während zehn Jahre später Olah die SPÖ schwächte. Letzteres ist unanfechtbar; was den Erdrutsch von 1956 betrifft, so kann man hier wohl den Wahleffekt des Staatsvertragserfolges für die ÖVP auch etwas anders beurteilen.

Der Autor geht aber einen Schritt weiter und gelangt zu „Bruttoveränderungen der Stimmenanteile der politischen Lager” (siehe oben), die wesentlich größere Stabilität verraten als die einzelnen Parteien:

Er erklärt diese außerordentliche Lagertreue der österreichischen Wähler vor allem mit zwei konstitutiven Elementen: Einer festen organisatorischen Bindung der Individuen an die jeweiligen Lager einerseits, einer „außerordentlich stark wirkenden Familientradition” anderseits.

In dieser Betrachtungsweise determinieren den Menschen in Österreich vier mächtige Institutionen: Elternhaus, Partei, ÖGB und Kirche — der ÖGB die einen, die Kirche die anderen. Und es ist, meint Konecny, deutlich, wenn auch nicht expressis verbis, daß im Zuge der Zeit immer mehr Menschen der Kirche zwangsläufig entgleiten, um dem ÖGB in die Arme zu fallen. Sie wechseln nicht ihre „Gesinnung”, sondern ihr „Milieu”, weil’das, was sie politisch voneinander unterscheidet, in erster Linie eben nicht eine „Gesinnung” ist, sondern ein „Milieu” — dem vielzitierten „Milieukatholiken” steht, als roter Zwillingsbruder, der „Milieusozialist” gegenüber, und der Anpassungsdruck, der in der dörflichen Gesellschaft Katholiken erzeugt, verwandelt diese, wenn sie in die Stadt ziehen, um Arbeiter (oder neuerdings Angestellte im Overall) zu werden, schnellstens in Gewerkschafter und damit potentielle sozialistische Wähler. Man könnte auch sagen: Bindungen machen Wähler.

Kaum weniger als 1,4 Millionen Österreicher sind Parteimitglieder. Daß die SPÖ lange Zeit die mitgliederstärkste Partei in der Sozialistischen Internationale war und erst vor kurzem von der SPD überrundet wurde (bei siebenfacher Bevölkerungszahl!), ist in Österreich bekannt — der Sozialist Konecny sieht aber in der Mitgliederstärke der ÖVP ein noch erstaunlicheres Phänomen, dp sie unter den konservativen Parteien noch stärker hervorsticht. Freüich soll mancher unter den ÖVP-Mitgliedern gar nicht wissen, daß er eines ist: „Die primäre Loyalität der ÖVP-Mitglieder gilt zumeist dem ,Bund’, dann erst der Gesamtpartei”, und Mitglieder des Bauernbundes sollen nicht immer über ihre automatische ÖVP-Mit- gliedschaft informiert sein.

Zu den Bindungen, die das Wahl- verhalten der Österreicher beeinflussen, zählt ein dichtes Netz ‘von „Zweckorganisationen”, zählt aber vor allem die Tatsache, daß, so Konecny, „das politische System Österreichs eine starke ständestaatliche Komponente aufweist”. Er sieht diese Komponente darin, daß nahezu alle Berufsgruppen in „Kammern” mit obligatorischer Mitgliedschaft vereinigt sind: „Diese Kammern sind Körperschaften öffentlichen Rechts, die formal von gewählten Gremien geleitet werden, tatsächlich aber sind angesichts der politischen Homogenität der Berufsgruppen die politischen Mehrheitsverhältnisse jeweils so eindeutig, daß eine parteipolitisch fast homogene Bürokratie entstanden ist. Auch Angehörige der jeweiligen Minderheits- gruppe und erst recht parteipolitisch Ungebundene sind in der Vertretung ihrer beruflichen Interessen auf die Mithilfe dieser Bürokratien angewiesen. Ein Einfluß dieser Kammern — die auch über Mitteilungsblätter verfügen — auf die politische Haltung ihrer Mitgliedschaft im Sinne einer Zementierung der jeweiligen Orientierung ist kaum zu leugnen.”

Der 1945 an Stelle der früheren Richtungsgewerkschaften als Einheitsgewerkschaft installierte ÖGB bildet, auf Grund seiner eindeutigen sozialistischen Mehrheit und der diese Mehrheit widerspieglenden Zusammensetzung seines Funktionärsund Beamtenapparates, eine, so Konecny, „im Bewußtsein der Bevölkerung … eindeutig der ,linken Reichshälfte* zuzuzählende Gruppierung, die zwar als eigenständige Kraft wirkt, im großen und ganzen aber die Politik der SPÖ unterstützt” (heute ist es eher umgekehrt).

Konecny zitiert einen unveröffentlichten ÖGB-Forschungsbericht aus dem Jahr 1968, aus dem die interessante Tatsache hervorgeht, daß 53 Prozent der ÖGB-Mitglieder dies automatisch beim Eintritt in den Betrieb, und daß 29 Prozent erst später im Betrieb geworben wurden — nur 18 Prozent wurden außerhalb des Betriebes geworben oder suchten selbst ein Gewerksohaftssekre- tardat auf, um sich einschreiben zu lassen. 82 Prozent der ÖGB-Mitglieder wurden dies demnach, wie Konecny selbst es formuliert, „vorwiegend unter einem gewissen moralischen Druok der Kollegen im Betrieb, wobei der Gewerkschaftsbeitritt angesichts der großen Organisationsdichte eine gewisse Automatik bekommt”.

Da die Gewerkschaftsbewegung heute längst nicht mehr nur die klassische Industriearbeiterschaft erfaßt, sondern auch unter leitenden Angestellten und in neuen Berufsgruppen einen hohen Organisationsgrad erreichen konnte, darf der Einfluß der via ÖGB-Mitgliedschaft eingetretenen Bewußtseinsveränderungen auf das Wahlverhalten nicht unterschätzt werden. Die von Konecny zusammengefaßten Fakten legen in dieser Massierung durchaus den Schluß nahe, daß nicht zuletzt die Kumulierung solcher Einflüsse zur großen Wende der Nationalratswahlen von 1970 und 1971 geführt hat. Dies wiederum würde auf irreversible Einflüsse auf das Wahlverhalten im Sinne der SPÖ hindeuten — irreversibel vor allem dann, wenn es der Opposition nicht gelingt, innerhalb oder außerhalb der Gewerkschaft gerade dieses neue Bewußtsein anzusprechen. Eine Erkenntnis, die aber manchem erst langsam dämmert — immerhin wird der Arbeiterkammerwahl von der Opposition diesmal besonders große Bedeutung beigemessen.

Obwohl die Bindung der Mitglieder an die Gewerkschaften gering ist, ist deren integrativer Einfluß groß — auch unter Nicht-Gewerkschaftsmitgliedern wird die Wichtigkeit der Gewerkschaften weithin anerkannt. Dabei registriert der Verfasser eine die SPÖ begünstigende Wirkung der ÖGB-Mitglieder sowohl bei Arbeitern wie bei Angestellten: „Eine scharfe Trennung zwischen Arbeitern und Angestellten ist in politischer Hinsicht nicht zu machen.” Bin Satz, den man allenfalls bis zu den Nationalratswahlen der Jahre 1970 und 1971 für Wunschdenken halten mochte, der aber mittlerweile zuungunsten der jetzigen Opposition verifiziert wurde. Was für die Opposition ein Grund sein könnte, sollte, müßte, auf dem gewerkschaftlichen Sektor entschiedener, profilierter, aufzutreten und die Rolle, die die Fraktion christlicher Gewerkschafter dort heute spielt, umzuschreiben. Ihre Inaktivität ist’ nicht nur eine Folge ihres Daseins als Minderheit, sondern führt immer tiefer in eine in diesem Ausmaß zweifellos unnötige Isolation. Diese Isolation ist nicht zuletzt eine Folge personeller Schwächen. Hier wäre anzusetzen — dies sollte der „Rote” Konecny nicht nur die „ÖGB- Schwarzen” lehren, sondern das konservative Lager insgesamt sollte ein stärkeres „inneres ÖGB-Pro- blembewußtsein” entwickeln.

Auch in der vorliegenden Untersuchung tritt die Koppelung zwischen lokaler und politischer Mobilität klar zutage, erscheint geringe politische Mobilität nicht zuletzt als Folge geringer lokaler Mobilität, durch die, im Verein mit den starken institutioneilen Verankerungen, „politische Bindungen über die Generationen tradiert werden”. Während däs deutschnationale Lager zerfiel und weitgehend von den Großparteien absorbiert wurde, konnten — wie aus Befragungen hervorgeht — rund 80 Prozent der sozialdemokratischen und rund 70 Prozent der christlichsoziaien Väter ihre politische Präferenz an die Kinder weitergeben. Auch die Intensität der Parteibindung wird in starkem Maß an die Folgegeneration weitergegeben. Für beide Parteien gilt dabei auch die Regel, daß jene ihrer Wähler, deren Eltern eine andere Partei bevorzugten, im allgemeinen zu den „unsicheren Wählern” zählen und daß in jenen Fällen, in denen die Familientradition nicht ausreicht, die Kinder zu halten, diese „wenigstens in den meisten Fällen nur zu sehr distanzierten Anhängern der Gegenseite” werden.

Der stärkste Abfall vom konservativen Elternhaus zugunsten einer sozialistischen Präferenz ist in der Altersgruppe der Unter-25-Jährigen gegeben. Studenten und Akademiker gehen relativ am häufigsten aus einem sozialistischen Elternhaus zum konservativen Wählerpotential über, während die ÖVP hier auch am konsequentesten die deutschnationalen Bestände an sich zu bringen vermochte.

Die Familie scheint als das politisch homogenste gesellschaftliche Gebilde auf, nur vier Prozent der Österreicher leben in ihrer Familie in „einsamer politischer Opposition” — vor allem ältere Menschen. 54 Prozent der familiär-politischen Kleinwelten sind völlig homogen: hier finden die beiden großen Parteien ihre harten Kerne. Zwei Drittel der sicheren Anhänger (z. B. Bauern, Facharbeiter) leben in einer solchen politisch geschlossenen Umwelt.

Konecny bestätigt, was viele längst wissen, wenn er vor allem in der gehobenen, aulwärtsstrebenden Angestelltenschaft eine Gruppe von echt unentschlossenen, in keiner Richtung mehr konditionierten Wählern entstehen sieht, um die man werben muß und von denen künftig das politische Schicksal dieses Landes letztlich abhängen wird. Eine Oppositionspartei, die ihr Schicksal nicht als naturgegeben hinnehmen will, wird sich vor allem an diese Gruppe wenden müssen, ihnen dabei aber besser nicht auf die Zehenspitzen eines neuentdeckten gewerkschaftlichen Bewußtseins steigen. Zu den Grund-Ingredienzien eines neuen Oppositionsrezeptes sollte es gehören, nicht undifferenziert gegen den ÖGB zu feuern, sondern „innere ÖGB-Kritik” zu üben, die besseren gewerkschaftlichen Alternativen zu bieten. Dies in dicksten Buchstaben der ÖVP ins Stammbuch.

Sehr intensiv zu überprüfen, im Falle ihrer Richtigkeit, aber ohne Wunschdenken zur Kenntnis zu nehmen, wäre die These von Konecny, wonach sich im Bewußtsein der aus dem agrarischen Bereich in die Städte abgewanderten „neuen Arbeiterschaft”, die zu einem Parteiwechsel drängenden Momente kumulieren, „bis sie als Anstoß zu einem Parteiwechsel ausreichen, der dann aber meist irreversibel bleibt”.

Ein vor allem in den unteren Rängen der Arbeiterschaft, bei den Hilfsarbeitern, registrierter Effekt. Denn: „Diese klassische Cross- pressure-Situation schlägt sich bei den politisch weniger mobilen Hilfsarbeitern aber nicht in der erwarteten Bereitschaft zum häufigen Parteiwechsel nieder, sondern eher in einem relativ langen .Verzöge- rungsfaktor1.”

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung