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Die politischen Lager-Ersatzheimat der Österreicher?

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„Bitter ist die Wahrheit der Geschichte, doch besser scheint es, sie auszusprechen, als sie zu .verheimlichen.“ Aiexander Solschenizyn „Die VerganQenlieit wird, sobald wir sie zu erforschen- beginnen, zu einer lebendigen Realität “ Milovan Djilas

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„Bitter ist die Wahrheit der Geschichte, doch besser scheint es, sie auszusprechen, als sie zu .verheimlichen.“ Aiexander Solschenizyn „Die VerganQenlieit wird, sobald wir sie zu erforschen- beginnen, zu einer lebendigen Realität “ Milovan Djilas

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Es wird der Demokratie oft zum Vorwurf gemacht, daß sie keine Ziele anstrebe. Dieser Vorwurf besteht zu Recht. Die Demokratie befaßt sich nicht mit Zielen, sondern bestimmt nur die Mittel, mit denen antagonistische Gruppen ihre Ziele verfolgen können. Der Zweck der Demokratie wird erfüllt, solange gesellschaftliche Änderungen aus antagonistischen Zielsetzungen der verschied nen Interessengruppen erfolgen, zu deren Erreichung nur demokratisch normierte Kampfmittel eingesetzt werden. Politische Kampfmittel sind insoweit demokratisch normiert, als die auferlegten Beschränkungen von den verschiedenen antagonistischen Gruppen prinzipiell akzeptiert werden.

Die Beständigkeit der Demokratie erfordert von den Parteien mehr als das bloße Einhalten der Normen, die bestimmen, welche Mittel in der politischen Arena zulässig sind. Demokratische Politik ist nur in dem Ausmaß gewährleistet, in dem die einander bekämpfenden Parteien die Erhaltung des Verfassungssystems und die Gültigkeit der demokratischen Normen über die Erreichung der Parteiziele stellen. In einer stabilen Demokratie verfolgen die maßgebenden Parteien und Fraktionen ihre Ziele mit Mitteln, die die Demokratie bestätigen und lassen ihre Politik nicht von „Extremisten“, „Radikalen“, „Fanatikern“ oder „Idealisten“ beeinflussen, die bereit sind, alle Mittel zur Erreichung politischer Ziele einzusetzen. Politisch Gemäßigte, die die Anwendung undemokratischer Mittel ablehnen, stehen nämlich mit ihren Zielen häufig im gleichen politischen Lager mit Extremisten, die bereit sind, alle Mittel zur Erreichung ihrer politischen Ziele einzusetzen.

Die Vitalität und Stabilität der Demokratie wird weitgehend bestimmt von dem Verhältnis zwischen Gemäßigten und Extremisten innerhalb der verschiedenen politischen Lager. Dieses Verhältnis zwischen Gemäßigten, die sich zur Einhaltung demokratischer Normen verpflichten, und Extremisten, die bereit sind, alle Mittel für ihre Parteizentrale oder Ideale einzusetzen, ist überaus kompliziert. Systematische vergleichende sozialwissenschaftliche Studien sollten hier aufschlußreich sein, doch erscheinen etliche Aussagen als allgemein gültig:

• Die Einstellung der Extremisten zu den Gemäßigten an ihrer Seite erscheint meist als eine Mischung von Haß für Verräter, Verachtung für

Feiglinge, begönnerndem Mitleid für naive' Narren, gelindert des öfteren durch die Hoffnung, unter den Gemäßigten Anhänger zu werben. Da die Mäßigung der Gemäßigten bisweilen von Opportunismus, Feigheit und Trägheit motiviert ist, sind die oben angeführten Sentimente der Extremisten oft gerechtfertigt. • Die Gemäßigten sind dabei häufig ihrer Sache nicht ganz sicher, wenn sie es mit Extremisten ihres eigenen politischen Lagers zu tun haben. Diese Unsicherheit entspringt der Ambivalenz der eigenen Einstellung. Die Gemäßigten schrecken zurück vor der kompromißlosen Verantwortungslosigkeit, mit der die Extremisten oft völlig unerreichbare Ziele anstreben. Der zügellose Haß der Extremisten stößt sie ab, vor allem, wenn sich dieser Haß gegen sie selbst richtet. Und dennoch — immer wieder finden die Gemäßigten, daß sie einfach nicht umhin können, den Extremisten gegen ihre eigene Überzeugung Anerkennung zu zollen für ihr ausgeprägtes Zielbewußtsein, für ihren Mut, für ihre militante Disziplin und ihre Einsatzbereitschaft. Hinzu kommt, daß die grenzenlose Verantwortungslosigkeit der Extremisten den Gemäßigten am Verhandlungstisch zugute kommen kann, sobald diese den Gegenspieler einschüchtern. Allerdings kann dabei den Gemäßigten beider Lager die Initiative an die Extremisten verlorengehen.

• Bei oberflächlicher Beobachtung scheint es, als hätten Gemäßigte mit Extremisten mehr gemeinsam als sie trennt, da sie doch die gleichen Ziele anstreben, wenn auch „bloß“ mit verschiedenen Mitteln. Diese Betrachtungsweise verleitet die Gemäßigten bisweilen dazu, mit den Extremisten zusammenzuarbeiten und Bündnisse einzugehen. Die Gemäßigten kommt solche Zusammenarbeit meist teuer zu stehen, da die »Extremisten letzten Endes darauf aus sind, alle zu zerstören, die nicht in allem und jedem mit ihnen übereinstimmen. (Anmerkung: Die konservativen deutschnationalen Koalitionspartner der Nationalsozialisten im Jahr 1933 und die sozialdemokratischen Koalitionspartner der Kommunisten in Osteuropa im Jahr 1945 haben das aus bitterer Erfahrung lernen müssen. Konservative Amerikaner, die anfangs die Tätigkeit des Senators Joseph McCarthy in den Jahren 1951 bis 1954 mit Wohlwollen betrachteten, besannen sich eines Besseren, als sie merkten, wie dieser selbsternannte Vaterlandsretter unter der Tarnung des Antikommunismus nicht nur Liberale angriff, sondern auch Konservative, die ihm im Weg waren. Es waren vor allem konservative Senatoren, die eine Zeitlang Joseph McCarthy günstig gesinnt gewesen waren, die rechtzeitig erkannten, daß seine Skrupellosigkeit in der Anwendung von Kampfmitteln jegliche demokratische Politik in Frage stellte.)

Die Bereitwilligkeit der Extremisten, jedes Mittel im politischen Kampf zu jeder Zeit einzusetzen, beruht auf der Überzeugung von der eigenen Unfehlbarkeit, die nicht nur jedes Mittel rechtfertigt, sondern auch den Anspruch auf uneingeschränkte Machtausübung.

Ihr Selbstvertrauen und ihre Einsatzbereitschaft setzen die Extremisten in Vorteil bei Auseinandersetzungen mit den Gemäßigten des eigenen Lagers. Die Toleranz und die Kompromißbereitschaft der Gemäßigten, die oft auf Opportunismus beruhen, kann sie zu verhängnisvollen Konzessionen gegenüber den Extremisten des eigenen Lagers bewegen. Dazu kommt, daß selbst einsatzbereite demokratische Überzeugung notwendigerweise auf der Einsicht eigener Fehlbarkeit beruht. Sobald aber die Extremisten in einem politischen Lager die Oberhand gewinnen, sind die Gemäßigten in allen Lagern in Gefahr, von ihren Extremisten überspielt zu werden. Die Einhaltung normierter Beschränkungen von Kampfmitteln ist nur wirksam, solange sich alle am politischen Kampf Beteiligten an diese Beschränkung halten. Sobald in einem Konflikt eine Seite normierte Beschränkungen von Kampfmitteln verletzt oder gar ignoriert, ist die Gegenseite moralisch an die verletzten oder gar ignorierten Normen nicht mehr gebunden. Je stärker die antidemokratischen Kräfte auf der einen Seite, desto schwächer werden die demokratischen auf der anderen.

Vor allem in der Geschichte Österreichs haben die Beziehungen zwischen Extremisten und Gemäßigten innerhalb der drei traditionellen politischen Lager eine bedeutende und verhängnisvolle Rolle gespielt. Die Geschichte der Ersten Republik wird überhaupt erst verständlich, wenn man neben den Beziehungen zwischen den politischen Lagern auch die Beziehungen zwischen Extremisten und Gemäßigten in den einzelnen Lagern betrachtet. In der Ersten Republik hat die Demokratie zwar letzten Endes versagt, doch wurde im Rahmen demokratischer Politik vor dem Zusammenbruch der Demokratie unter kaum vorstellbaren Schwierigkeiten viel geleistet. Diese Leistungen wären unmöglich gewesen, hätten die demokratischen Kräfte aller drei Lager nicht in den gesetzgebenden Körperschaften zusammengearbeitet, selbst während die militanten Formationen einander kampfbereit gegenüberstanden und sich öfters blutige Schlachten lieferten. Die dramatischen Zusammenstöße zwischen militanten Formationen überschatten in historischer Sicht natürlich die undramatische zähe Zusammenarbeit im Rahmen der parlamentarischen Demokratie. In dieser Zusammenarbeit erwies sich die Lebensfähigkeit der Demokratie in der Ersten Republik länger als ein Jahrzehnt. Dabei wurde unter den größten Schwierigkeiten die Grundlage geschaffen, auf der die Zweite Republik steht. Politische Führer aus allen drei Lagern haben dazu beigetragen.

Führer aus allen drei Lagern haben jedoch auch zum Zusammenbruch der Demokratie beigetragen, sei es als antidemokratische Extremisten, sei es als demokratisch gesinnte Gemäßigte, deren Mäßigung Konzessionen an die antidemokratischen Extremisten des eigenen Lagers motivierte. Übrigens schlössen gelegentliche antidemokratische Konzessionen an die Extremisten innerhalb des eigenen Lagers konstruktive demokratische Zusammenarbeit mit Gemäßigten des gegnerischen Lagers in gesetzgebenden Körperschaften keineswegs aus.

Es wäre jetzt von großem historischem und sozialwissenschaftlichem Wert, festzustellen, welche Entscheidungsmöglichkeiten den Wählern und ihren verantwortlichen Vertretern während der verhängnisvollen Entwicklungen der Geschichte Österreichs zwischen den Weltkriegen zu den verschiedenen Zeitpunkten offenstanden. Von besonderem Interesse wären dabei politische Entscheidungen, durch die die Weichen gestellt worden sind, welche nachfolgende Entwicklungen bestimmt haben. Solche Feststellungen sollen nicht Material für olympische Urteile im Sinne moralischer Selbstgerechtigkeit liefern, sondern zum besseren Verständnis beitragen. Es ist die grundlegende These dieser Abhandlung, daß der Zusammenbruch der Demokratie im Österreich der Zwischenkriegsjahre nicht unabwendbar vorbestimmt war, sondern aus politischen Entscheidungen resultierte, die zu verschiedenen Zeitpunkten, aus verschiedenen Motiven, von Anhängern und

Führern der drei politischen Lager getroffen worden sind.

In diesem Zusammenhang sind auch Betrachtungen über alternative Entscheidungsmöglichkeiten von Interesse. Vor allem in der Geschichte der Ersten Republik waren jeweilige Entscheidungen der Gemäßigten bezüglich Zusammenarbeit mit Gemäßigten gegnerischer Lager oder mit den Extremisten der eigenen Lager von Tragweite. In der Ersten wie in der Zweiten Republik wurde die österreichische Demokratie durch die schwersten Krisen von zusammenarbeitenden Gemäßigten verschiedener gegnerischer Lager geführt. Die überaus prekäre wirtschaftliche und politische Lage der Ersten Republik wurde erst verhängnisvoll, als eine dreipolare Radikalisierung jegliche Zusammenarbeit zwischen Gemäßigten unmöglich machte.

Die Erste Republik Österreich wie auch die Zweite entstanden unter überaus ungünstigen politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen. Die größere Stabilität der Demokratie in der Zweiten Republik kann jedoch nicht aus dem „Wirtschaftswunder“ erklärt werden, denn in\ der Zweiten Republik (wie übrigens auch in der deutschen Bundesrepublik) ging das allgemein übersehene politische Wunder der Demokratie dem wirtschaftlichen Aufstieg voraus. Selbst in der ärgsten Not der Nachkriegszeit standen die Österreicher nach 1945 zu der demokratischen Verfassung, die sie zwölf Jahre früher bereitwillig über Bord geworfen hatten.

Inzwischen trösten sich österreichische Extremisten über ihre gegenwärtige Bedeutungslosigkeit mit Wunschträumen von einer großen Zukunft und auch mit einer erträumten Sicht der Vergangenheit. Ihre Zukunftsvisionen genießen die Extremisten in Österreich derzeit in stiller Abgeschiedenheit. Weder das „Wiedererstehen der Festung Europa“ und ähnliche glorreiche Kyffhäuserträume der „Nationalen“, noch die menschheitsbeglückenden Utopien von einer klassenlosen Gesellschaft werden heutzutage in Österreich von Leuten, die ernst zu nehmen sind, ernstgienommen. Gleichfalls isoliert sind die Extremisten in ihren Visionen der apokalyptischen Katastrophen, die zur Verwirklichung ihrer utopischen Sandkastenkonstruktionen im Sinne ihrer jeweiligen Heilslehren führen sollen. Diese Visionen von apokalyptischen Katastrophen sind jedoch ernst zu nehmen, da die selbstgerechten Extremisten bereit sind, durch Verletzung demokratischer Normen den „Lauf der Geschichte“ auf solche Katastrophen hinzulenken.

Die Versuche der Extremisten, die Vergangenheit durch willkürliche Geschichtsklitterung, also quasi durch Vergewaltigung, zu bewältigen, sollten ernstgenommen werden. Erstens ist die historische Perspektive eines Kollektivs ein integraler

Bestandteil der Identität dieses Kollektivs und reflektiert dessen grundlegende Werte und Aspirationen. (Daher auch das Interesse von Ethnographen für mündlich und schriftlich überlieferte Ursprungslegenden und Mythen.) Zweitens bestätigt historische Perspektive gegenwärtige Ideologien und motiviert Verhalten. In Österreich sollten derzeit die historischen Perspektiven der Extremisten der verschiedenen politischen Lager besonders ernstgenommen werden, denn gerade hier finden diese Gelegenheit, ihre Isolation zu durchbrechen und mit den Gemäßigten des eigenen Lagers Kontakt herzustellen. Die meisten Österreicher zeigen derzeit für die Geschichte der Ersten Republik nicht viel Interesse. Soweit sie sich jedoch mit diesem Thema überhaupt befassen, akzeptieren sie bereitwillig die Ansichten, in der die Dinge vom Standpunkt des eigenen Lagers gesehen werden. Besonders in historischer Perspektive verdecken jedoch die Splitter in den Augen der andern die Balken in den eigenen. Genauso verdecken vergangene Verstöße gegen die Demokratie in den gegnerischen Lagern analoge Verstöße im eigenen. Unter diesen Verstößen gegen die Demokratie finden wirvin allen drei politischen Lagern Bindungen an seither in völligen Verruf geratene Diktaturen, antidemokratische Bestrebungen und grobe Verletzungen demokratischer Normen.

Abgesehen von einigen der Wissenschaft und nicht der Politik verpflichteten Historikern scheint derzeit das Erfassen der Vergangenheit Österreichs ein Monopol der Extremisten der verschiedenen Lager zu sein. Dabei finden wir demokratisch gesinnte Publizisten und Historiker, die jegliches „Koalitionsdenken“ bezüglich historischer Perspektive ausdrücklich ablehnen. Übrig bleibt „Lagerdenken“, ausgerichtet auf eine uneingeschränkte Rechtfertigung des eigenen politischen Lagers. Das festigt natürlich die Abgrenzung zum gegnerischen politischen Lager. Es ist natürlich unvermeidlich, daß Konflikte bisweilen zur klaren Abgrenzung der Lager gegeneinander führen. Dennoch verbindet die demokratisch gesinnten Gemäßigten aller gegnerischen politischen Lager ihre Verpflichtung, demokratische Institutionen und die Einhaltung demokratischer Normen zu bewahren. Diese Bindung zwischen demokratisch Gesinnten gegnerischer Lager findet einen soliden Anker in gemeinsamen historischen Perspektiven, sobald diese die Bewältigung der Vergangenheit als demokratische Norm akzeptieren.

Es ist jedoch nidht überraschend, daß kursierende historische Perspektiven in Österreich meist die Gemäßigten und Radikalen innerhalb der verschiedenen Lager aneinander binden und nicht die demokratisch gesinnten Gemäßigten der verschiedenen Lager, denn die drei politischen Lager Österreichs haben eine längere und kontinuierlichere Geschichte als die Republik Österreich selbst. Die drei gegnerischen österreichischen politischen Lager sind seit fast einem Jahrhundert in ihrer Ideologie und in der Zusammensetzung ihrer Anhängerschaft ziemlich eindeutig identifiziert. Es gab sie bereits, ehe es eine Republik Österreich gab. Diese Kontinuität der österreichischen politischen Lager steh in krassem Kontrast zu den w gehenden politischen Überwältigungen, die Österreich in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts durchgemacht hat. Natürlich hat jedes dieser Lager seine Geschichte, und ungezügeltes Lagerdenken führt naturgemäß zu Geschichtsauffassungen, die das eigene Lager auf Kosten der andern bestätigen. In solchen lagergebundenen Geschichtsauffassungen werden die Leistungen der demokratisch gesinnten Gemäßigten in den anderen Lagern minimalisiert oder übersehen. Außerdem werden die antidemokratischen radikalen Tendenzen der anderen Lager betont, was natürlich die Radikalen des eigenen Lagers mit Alibis versieht.

Die größte parteipolitische Kontinuität und das weitverzweigteste Organisationsnetz mit einer dauerhaften Massenmitgliedschaft finden wir im sozialistischen Lager, welches seit fast einem Jahrhundert mit der österreichischen Industriearbeiterschaft identifiziert ist. Im sozialistischen Lager haben radikale Splittergruppen nur eine untergeordnete Rolle gespielt. (Das gilt natürlich nicht für die illegalen Verbände unter der autoritären Diktatur 1934 bis 1938). Die für Österreich charakteristische Einheit des sozialistischen Lagers erscheint als eine historische Leistung der als „Austro-marxismus“ bekannten Synthese von marxistischer Theorie mit Teilnahme an der parlamentarischen Demokratie. Vor allem in den Notjahren der Ersten Republik bewahrte diese Synthese von verbalem Radikalismus mit gemäßigter demokratischer Praxis das sozialistische Lager Österreichs vor der Spaltung, die die sozialistischen Bewegungen in den meisten europäischen Ländern damals entscheidend geschwächt hat. In diesen Notjahren hat die Einheit des sozialistischen Lagers es einerseits der sozialistischen Partei ermöglicht, abenteuerliche Revolutionsversuche zu verhindern, doch behinderte die Bewahrung der Einheit mit den Radikalen die Zusammenarbeit mit demokratisch gesinnten Gemäßigten der anderen Lager. Zur unbewäl-tigten Vergangenheit des sozialistischen Lagers gehören vor allem die Konzessionen an die antidemokratischen Radikalen des eigenen Lagers, die auf Kosten demokratischer Zusammenarbeit mit den demokratisch gesinnten Gemäßigten der anderen Lager die hoch bewertete „Einheit der Partei“ wahrten1.

Auch das konservative Lager bleibt, trotz totaler Änderung des Parteinamens und etlicher Modifizierungen der Ideologie, klar und eindeutig profiliert. Gestützt vor allem auf Österreichs unabhängige Landwirte und auf das städtische konservative Bürgertum, kamen vor allem aus diesem Lager die Männer, die in Österreich in den letzten Jahrzehnten des Kaiserreichs und während der Ersten Republik regierten. Von November 1920 bis September 1930 und von November 1930 bis September 1933 regierten Führer dieses Lagers in Koalition mit demokratisch gesinnten Politikern aus dem dritten oder „national-liberalen“ Lager, von 1918 bis 1920 und von 1945 bis 1966 in Koalition mit Sozialisten. Von September 1930 bis November 1930 und von Mai 1932 bis zum zeitweisen Untergang Österreichs im März 1938 regierten die Konservativen in Koalition mit Faschisten. Zur unbe-wältigten Vergangenheit dieses Lagers gehören die Pakte, die nicht nur mit erklärten Feinden der Demokratie im eigenen Lager, sondern auch mit der faschistischen Diktatur Italiens geschlossen wurden. Diese Pakte führten zur verhängnisvollen autoritären Diktatur der dreißiger Jahre, die dieses Lager auf das schwerste belastet.

Österreichs drittes politisches Lager hat sich aus voneinander sehr verschiedenen Parteien von oft nur kurzer Lebensdauer zusammengesetzt, deren Wählerschaft von Wahl zu Wahl oft rapide zu- oder abnahm. Dennoch finden wir auch hier in der Schichtung der Wählerschaft und der Ideologie eine gewisse Kontinuität. Die städtischen Anhänger waren schon immer größtenteils Akademiker, so daß das dritte Lager seit jeher an den Hochschulen und unter Gehaltsempfängern besonders stark vertreten war. Außerdem waren evangelische Landgemeinden schon immer Hochburgen des dritten Lagers. Die Ideologie des dritten Lagers läßt jedoch keine eindeutige oder einheitliche Definition oder selbst Designation zu. Die Bezeichnung „freiheitlich“ der gegenwärtigen Partei des dritten Lagers enthält ein weites Gebiet von ideologischen Orientierungen, welche unter der innerlich widersprüchlichen Bezeichnung „nationalliberal“ nur in bezug auf klare Abgrenzungen gegen den demokratischen Sozialismus und den konservativen Klerikalismus der beiden großen Lager Kontinuität aufweist. Parteiführer aus dem dritten Lager haben der österreichischen Demokratie in den Notjahren der Ersten Republik wertvolle Dienste in Zusammenarbeit mit demokratisch gesinnten Führern aus den beiden anderen Lagern geleistet. Insbesondere zum Zustandekommen der Verfassung von 1929, die seither die Verfassung der Zweiten Republik geworden ist, haben führende Politiker aus dem dritten Lager entscheidend beigetragen. Auch jetzt trägt die Bereitwilligkeit von Politikern des dritten Lagers, mit jenen der anderen Lager zusammenzuarbeiten, zur Vitalität und Stabilität der Demokratie bei.

Zur unbewältigten Vergangenheit dieses Lagers gehört dessen Neigung zu einem zügellosen deutschen Nationalchauvinismus, der schon immer für die Extremisten dieses Lagers charakteristisch war. Zu Beginn dieses Jahrhunderts hat der deutschnationale Chauvinismus der Extremisten des dritten Lagers zum Zusammenbruch der Donaumonarchie wesentlich beigetragen. Erst vor kurzem haben Extremisten im Zusammenhang mit Problemen der Mehrsprachigkeit an Österreichs Grenzen bewiesen, daß sie bereit sind, irrationale und antidemokratische Gewaltmittel einzusetzen, um Kompromisse möglichst zu erschweren.

Zur unbewältigten Vergangenheit gehört hier vor allem die Bereitwilligkeit, mit der bereits im Frühjahr 1932 der größte Teil der Anhängerschaft zu Hitlers Nationalsozialisten übergegangen ist. Zwar versteht sich heute der größte Teil von

Österreichs drittem Lager als „libe-■al“, oder zumindest als „national-iberal“. Ein Bekenntnis zum Liberalismus, und sei es selbst ein .national-liberaler“, ist jedoch kaum »laubwürdig ohne ausdrückliche Ablehnung der vergangenen Binningen dieses Lagers an Hitlers Nationalsozialismus.

Politische Mäßigung motiviert in dien drei politischen Lagern öster-■eichs derzeit weitgehende Bereitschaft zur demokratischen Zusam-nenarbeit mit den Gemäßigten der anderen Lager. Wenn es jedoch um iie Erfassung der Vergangenheit »eht, sind die Gemäßigten in allen Lagern zur Nachgiebigkeit gegen-iber den militanten Extremisten des eigenen Lagers bereit. Gemäßigte sind nun einmal kompromißbereit. Diese Kompromißbereitschaft stärkt lie Demokratie jedoch nur, wenn sie lur Zusammenarbeit mit den Gemä-3igten der anderen Lager führt. Die neisten Gemäßigten haben als gegenwartsbezogene Pragmatiker für die Vergangenheit nicht viel Interesse und überlassen deswegen die Beschreibung der Vergangenheit denen, die sich an diese scheinbar unwichtige Arbeit drängen. Damit bleibt jedoch die Geschichtsschreibung in den Händen der Lagerpatrioten, denen es vor allem um sine Herabsetzung der Gegenseite and eine Rechtfertigung der eigenen zu tun ist. Im Falle von Krisen können parteiliche historische Perspektiven wesentlich zur Verschärfung ler Spannungen beitragen. Das wird vor allem von denen übersehen, die nicht aus Überzeugung, sondern aus Bequemlichkeit friedliebend sind.

In der Weltpolitik setzt sich bereits die Erkenntnis durch, daß äie Geschichtsschreibung nicht das Monopol der Chauvinisten der einzelnen Länder bleiben darf. Es setzt sich die Einsicht durch, daß selbstgerechte historische Perspektiven nicht eine harmlose Quelle nationaler Selbstbestätigung sind, sondern potentieller Zündstoff, der auftauchende Krisen wesentlich verschärfen kann. Daher bieten spannungsfreie friedliche Perioden iie Gelegenheit, einseitige historische Perspektiven sine ira et studio zu korrigieren. Derzeit befassen sich Historiker in verschiedenen Ländern mit der Revision von Geschichtsbüchern, die vergangene Konflikte aus einem Pseudopatrio-tismus heraus so schildern, als wäre immer alles Recht auf einer und alles Unrecht auf der anderen Seite gewesen. Die Ausmerzung solcher pseudopatriotischer Geschichtsklitterung dient dabei zugleich der Wahrheit und der Erhaltung des Friedens. Es ist dabei besonders erfreulich, daß gerade ein österreichischer Historiker erst vor kurzem in Zusammenarbeit mit einem Historiker aus dem Lande, das Österreichs „Erbfeind“ war, zu einer solchen völkerverbindenden und der Wahrheit dienenden Geschichtsschreibung vorbildlich beigetragen hat2.

Es ist keine Übertreibung, die politischen Lager der Ersten Republik Österreichs mit Ländern zu vergleichen. Damals besaßen die Parteien ihre eigenen Fahnen, ihre eigenen Parteihymnen, sogar ihre eigenen bewaffneten Formationen. Kurzum, die antagonistischen politischen Lager beanspruchten und erhielten eine loyale Anhänglichkeit, wie sie Bürger anderer Staaten, inklusive die Bürger der Zweiten Republik, ihrem Land zollen. Die Umstände, die zu diesem Lagerdenken führten, lagen jenseits der Gewalt der Österreicher. In Anbetracht der wirtschaftlichen und politischen Lage Österreichs von 1919 bis 1932 erscheint der Erfolg, mit dem unter diesen Umständen demokratische Politik damals betrieber worden ist, als eine Leistung, zu dei zähe und undramatische Zusammenarbeit der Führer aller Lager beigetragen hat und auf die Österreicher aus allen Lagern stolz sein können

Demokratische Politik ist immei zum Teil von Lagerdenken bestimmt und zum Teil von Koalitionsdenken. Unter dem Einfluß von Lagerdenker werden eigene Parteiziele im Gegensatz zu den Zielen der anderen verfolgt. Unter dem Einfluß von Koalitionsdenken werden eigene Ziele zurückgestellt zugunsten von Zielen und Werten, die man mit dem Koalitionspartner oder den Koalitionspartnern teilt. Die Geschichte Österreichs liefert zahlreiche Beispiele für die Leistungsfähigkeit von demokratischer Politik in Krisenzeiten, das heißt, von Politik, die von Koalitionsdenken motiviert ist Wir finden jedoch auch in der Geschichte Österreichs etliche Beispiele für die krisenverschärfenden Wirkungen von Parteipolitik, die von kompromißlosem Lagerdenken motiviert ist.

Übrigens zeigt Österreichs politische Geschichte des letzten Jahrzehnts auch, daß der Zusammenbruch einer allzuumfassenden Koalition für die Demokratie gesund ist, sobald eine überstandene Krise nicht mehr eine alle Sonderinteressen überschattende Zusammenarbeit von gegensätzlichen politischen Kräften erfordert. Die Demokratie gedeiht gerade im Karnpl zwischen Regierung und Opposition und im freien Spiel gegensätzlicher Interessen, solange ein Ubereinkommen der demokratisch gesinnten Gegner die Einhaltung der Spielregeln des demokratischen Kampfes über die Erreichung der Kampfziele stellt. Außerdem erscheint es zur Erhaltung der Demokratie erforderlich, daß die demokratisch gesinnten Antagonisten auch an einer gemeinsamen Bewältigung einer konfliktreichen Vergangenheit zusammenarbeiten. Dabei ist natürlich nicht zu erwarten, daß Vergangenheitsbilder entstehen könnten, die für alle völlig identisch sind. In der Betrachtung von vergangenen Ereignissen und Entwicklungen, wie auch in der Betrachtung von Landschaften, beeinflussen Standpunkt und Gesichtswinkel, was man sieht. Gemeinsam unternommene Geschichtsforschung sollte jedoch den Angehörigen der verschiedenen politischen Lager Österreichs Geschichtsbilder liefern, die miteinander vereinbar sind. Eine solche interparteiliche Geschichtsforschung sollte zumindest die selbstgerechten parteilichen Geschichtslegenden der Lagerpatrioten beiseite räumen, deren geistige Vorfahren die Demokratie Österreichs schon einmal zu Fall gebracht haben. Dazu bedarf man nicht einer überparteilichen historischen Perspektive, die es ebensowenig gibt wie irgendeine Art von standpunktloser Perspektive, denn ohne Standort gibt es überhaupt keine Perspektive. Unterschiedliche Perspektiven sind jedoch miteinander vereinbar, solange Tatsachen prinzipiell akzeptiert werden.

In dem Maß, in dem in Österreich die Bewältigung der Vergangenheit im Sinne eines mit Scheuklappen versehenen und tief verwurzelten Lagerdenkens stattfindet, werden Einstellungen gerechtfertigt, die in künftigen Krisen die österreichische Demokratie wiederum bedrohen und zersetzen könnten. Die verhängnisvollen Krisin der Demokratie in Österreichs Vergangenheit, die zu ihrer Bewältigung zu ihrer Zeit einer Koalition aller demokratischen Kräfte bedurft hätten, können auch jetzt am besten im Rahmen eines Koalitionsdenkens historisch bewältigt werden. Hier geht es nicht um Verurteilung und Rechtfertigung, sondern um schonungslose Konfrontation mit Fakten. Vielleicht wird ein in Koalitionsdenken begründetes Geschichtsbewußtsein das Lagerdenken zumindest soweit ersetzen, daß es die österreichische Demokratie in kommenden Krisen nicht wieder ernsthaft bedrohen kann.

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