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Die Politschule Giscards

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Die Ernennung eines französischen Ministerpräsidenten und seiner Mitarbeiter hängt ausschließlich vom Staatspräsidenten ab. Der Präsident ist dabei in keiner Weise verpflichtet, die Meinung von Parteienvertretern einzuholen oder sich von irgend-jemandem beraten zu lassen. Diese Methode wurde auch von Präsident Giscard d'Estaing anläßlich einer kürzlichen Veränderung im Kabinett Chirac angewendet. Trotz dieser souveränen Möglichkeit, die Regierung nach eigenen Vorstellungen zusammenzustellen, muß das Staatsoberhaupt auf gewisse machtpolitische Elemente innerhalb seiner Majorität Rücksicht nehmen. Da die gaullistische Sammelpartei UDR im Parlament die stärkste Fraktion ist, gehört es zu einer eisernen Regel der gegenwärtiger Innenpolitik, den Regierungschef aus dieser Gruppe zu holen. Deshalb ist die Position Chiracs auch niemals gefährdet gewesen und die Zusammenarbeit mit dem ersten Mann des Landes wurde durch nichts getrübt.

Wie schon zuvor, hat auch diesmal Giscard d'Estaing seinen Willen bestätigt, Frankreich vom Zentrum aus au regieren. Das heißt, mit anderen Worten, Ablehnung jedes Extrems und Einhaltung gewisser liberaler Spielregeln. Unter diesem Gesichtspunkt muß auch die betonte Ehrung des Justizministers Lecanuet beurteilt werden, der den Rang eines Staatsministers erhielt, wodurch er Innenminister Poniatowski gleichgestellt wird. Wohl können die Staatsminister keine weiteren sachlichen Prärogativen in Anspruch nehmen, aber sie stehen gemäß dem Protokoll in der vordersten Linie der Equipe und sind so etwas wie die unmittelbaren Berater des Präsidenten. Obwohl Giscard d'Estaing nur zwei Tage brauchte, um die Regierung Chirac VI zu bilden — seit seiner Bestellung hat dieses Kabinett bereits fünf Änderungen erfahren —, wurde doch eine Reihe von politischen Schwerpunkten sichtbar, die es verdienen, analysiert zu werden. In den großen Ministerien, wie Inneres, Äußeres, Wirtschaft und Finanzen, Verteidigung und Unterricht, fand keine Umbesetzung statt. Lediglich das Ministerium für Umwelt, für Außenhandel und jenes für die Zusammenarbeit mit dem französisch sprechenden Afrika erhielten neue Titulare. Das Kooperationsministerium mit Afrika wird künftighin von einer der profiliertesten Persönlichkeiten der gaullistischen UDR geleitet. Jean de Lipkowski war bis in unsere Tage hinein „Außenminister“ seiner Partei. Er knüpfte internationale Verbindungen mit politischen Kräften Europas, deren Palette von der deutschen CDU bis zur kommunistischen Partei Rumäniens reicht. Der Eintritt Lip-kowskis in das Kabinett Chirac VI verstärkt den gaullistischen Einfluß. Doch auch die europafreundliohen Kreise von Paris können sich mit der Konstituierung der Regierung Chirac VI zufriedengeben. Zwei überzeugte Vertreter einer positiv ausgerichteten Europapolitik werden sicherlich die bisherigen Initiativen Frankreichs in dieser Richtung bestärken. Es handelt sich um den ehemaligen Vizepräsidenten der Brüsseler EG-Kommission Raymond Barre und Francois Poncet, Sohn des französischen Botschafters in Berlin während der Epoche des Dritten Reiches und späteren Hochkommissars im Deutschland Adenauers. Beide Männer sind von der Notwendigkeit überzeugt, ein europäisches Parlament in freier Volkswahl zu bilden und der EG-Kommission weitere Vollmachten einzuräumen. Gerade diese Vorhaben sind das Schreckgespenst der orthodoxen Gaullisten, das, wie der frühere Ministerpräsident Debre annimmt, eine größere Gefahr für die Souveränität Frankreichs darstellt als die gewaltigen Armeen des Ostblocks.

Noch nie zuvor wurden in einer Regierung so viele Staatssekretäre ernannt wie am 12. Jänner 1976. Die 27 Damen und Herren, meistens jüngeren Jahrgangs, sollen sich in einer Art von Politschule ihre ersten Sporen verdienen, wie dies den Ansichten Giscard d'Estaings entspricht. Darüber hinaus werden die jungen Exzellenzen mit Einzelproblemen vertraut gemacht werden, denn auch in der Regierung greift die Spezialisierung immer mehr um sich. So gibt es einen Staatssekretär für die Lebensmittelindustrie, einen für die Gastarbeiter, einen für die Berufsausbildung ... die Liste kann beliebig fortgesetzt werden. Daß fünf Minister und neun Staatssekretäre keiner Partei angehören, ist ein No-vum in der Geschichte der V. Republik. Weder Chaban-Delmas noch Messmer im Juli 1972 griffen auf reine Technokraten ohne parlamentarischen Rückhalt zurück Zwei Motive haben Giscard d'Estaing bewogen, Fachleuten größere Verantwortung zu übergeben: sie sollen ihr eigenes Können und Fachwissen der Regierung nutzbar machen und zusätzlich jene liberalen Kreise präsentieren, die nicht gewillt sind, sich durch eine Partei vertreten zu lassen. Schon in den letzten Monaten des Jahres 1975, als die Gerüchte über einen Umbau der Regierung auftauchten, wurde gemunkelt, daß eine Beteiligung von Frauen in stärkerem Umfange vorgesehen sei. Die Tätigkeit der weiblichen Minister und Staatssekretäre kann in zwei Fällen als überaus erfolgreich bezeichnet werden. Gesundheitsminister Simone Veil gelang es, eine der schwierigsten Diskussionen in c; Amtszeit Giscard d'Estaings mit unglaublicher Energie und mit politischem Fingerspitzengefühl zu meistern. Wenn man bedenkt, welche Leidenschaften im Zusammenhang mit der Fristenlösung aufgewühlt worden waren, kann man verstehen, wie sehr Simone Veil ihren Titel als „einziger Mann“ in der Regierung verdient hat. Auch die ehemalige Direktorin des Wochenmagazins „L'Express“, Francoise Giroud,blickt auf einige beachtliche Leistungen zurück. Die Staatssekretärin für Frauenfragen hat einen winzigen Stab um sich, verfügt über kein Budget und vermag nur durch Argumente zu wirken. Sie verstand es auf alle Fälle, die Öffentlichkeit in einem überraschend großen Ausmaß mit den Aspirationen des weiblichen Geschlechts vertraut zu machen. Beide Damen stehen in der Volksgunst, glaubt man den verschiedenen Meinungsumfragen, an durchaus privilegierter Stelle. Die zwei anderen Staatssekretärinnen taten sich nicht besonders hervor, eine von ihnen beschäftigte sich mit der Reform der Gefängnisse, die andere mit den Problemen der Vorschulerziehung. Zwei neue Mitglieder im Bund der Frauen haben die Aufgabe, die Universitäten zu reformieren und die Konsumenten gegenüber den Produzenten zu verteidigen. Madame Alice Saunier-Seite, der die Universitäten anvertraut wurden, war bisher der einzige weibliche Rektor Frankreichs.

Man darf annehmen, daß diese Regierung als ausführendes Organ die Idee des Staatschefs, also eine nach landläufigen Begriffen „sozialdemokratische“ Politik, verwirklichen wird.

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