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Die Probleme der Behinderten sind von den unseren gar nicht so verschieden

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Ernst ist Spastiker, Rollstuhlfahrer, 25 Jahre alt, in Bewegungs- und Sprachmöglichkeiten schwer gehemmt. Kurt ist gesund, 23, und von Beruf Buchdrucker. Beide treffen einander mit vielen anderen Behinderten und Nichtbehinderten regelmäßig jeden Mittwoch und Samstag im Club „Alternativgemeinschaft Körperbehinderter und Nichtbehinderter“ in den Räumen des Gewerkschaftsbundes im 16. Wiener Gemeindebezirk. „Hier hilft nicht nur der Gesunde dem Behinderten; Lernprozesse finden auch umgekehrt statt“, formuliert der junge Sozialarbeiter Willi Tauber das Motto dieses Vereins.

Tauber hat das' Projekt zusammen mit anderen Kollegen vor eineinhalb Jahren gegründet. Als Vorbild dienten dabei englische Initiativen ähnlicher Art, wie ein von der Anglo Austrian Society vor zwei Jahren in Mallnitz abgehaltener Sommerkurs, an dem Behinderte und Gesunde gleichzeitig teilnahmen. Das Ergebnis war für alle Beteiligten überraschend: die Behinderten fühlten sich aus ihrer Isolation gerissen, sie fühlten sich akzeptiert und erfuhren, daß helfen eine Selbstverständlichkeit ist. Die Gesunden hingegen lernten Rücksichtnahme, Toleranz, Geltenlassen des Andersartigen. „Ich bin draufgekommen, daß die Probleme der Behinderten von den unseren gar nicht so verschieden sind“, sagt Tauber. „Sie sind bloß stärker ausgeprägt.“ Die Probleme Jugendlicher finden sich vor allem in Partnerbeziehungen, Generationsunterschieden, Schwierigkeiten in der Schule, am Arbeitsplatz.

„Mir gefällt es irrsinnig gut hier“, sagt ein fünfzehnjähriges Mädchen, das seit einer Kinderlähmung mit zwei Krücken geht. „Man ist nicht immer nur mit Behinderten zusammen, sondern fühlt sich auch von den Gesunden akzeptiert, und wird nicht so blöd angestarrt.“ Und ein achtzehnjähriger nichtbehindeter Berufsschüler meint: „Am Anfang haben mir die Behinderten nur leid getan. Jetzt hat sich meine Einstellung ihnen gegenüber extrem geändert. Das ist eben jetzt die Margit, und ich bin der Paul.“

Ursprünglich kamen die Nichtbehinderten ausschließlich aus den Studenten der Sozialakademie, die diese Projektgruppe in ihren Lehrplan aufgenommen hat. Jetzt sind es vor allem Jugendliche aus verschiedenen Berufssparten. Sie kommen regelmäßig hierher, um sich mit den Behinderten zu unterhalten, mit ihnen etwas zu unternehmen. Das Programm ist recht reichhaltig. Die Mittwochabende sind mehr theoretischen Gesprächen gewidmet, er werden Diskussionsrunden abgehalten, wobei die Probleme Behinderter erörtert und gelöst werden sollen. Daneben haben sich verschiedene Gruppen gebüdet: eine die sich mit Öffentlichkeitsarbeit befaßt, eine andere, die das geplante Sommerlager organisiert und eine dritte, die sich mit der Programmgestaltung beschäftigt. Vor allem in der Öffentlichkeitsarbeit sieht man ein zentrales Problem: Wie lassen sich möglichst viele Menschen für die Probleme Behinderter interessieren? Die Barrieren und Hindernisse, die sich dem Behinderten in der Öffentlichkeit entgegenstellen, werden durchdiskutiert. Gleichzeitig wird nach Lösungsmöglichkeiten gesucht: Wie können Stufen, Randsteine, Stockwerke überwunden werden? Wie können wir die psychischen Schranken niederreißen? „Nicht die Behinderung ist das eigentliche Problem, sondern die Vorurteüe der Leute uns gegenüber“, formuliert es ein Zwanzigjähriger, der gehbehindert ist.

Das ist eines der Kernprobleme: Dem Behinderten mehr Selbstvertrauen und mehr Selbstsicherheit zu geben und damit die Öffentlichkeit von seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten zu überzeugen. Ein weiteres zentrales Thema: die Bewältigung des Eltern-Kind-Konfliktes. Behinderte bleiben in der Regel viel länger von ihren Eltern abhängig als gesunde Jugendliche. Viele sind ihr ganzes Leben auf die Hüfe der Mutter angewiesen, was für beide zu einer schweren psychischen Belastung wird. Denn so, wie die Beziehung der Eltern zu ihrem behinderten Kind häufig zwiespältig ist, fühlt sich auch das Kind oft überbehütet oder abgelehnt

In der Aufarbeitung dieser Probleme zusammen mit Behinderten lernen auch nichtbehinderte Jugendliche eigene Probleme besser bewältigen. Umgekehrt lernt der Behinderte seine Behinderung nicht mehr als zentrales Problem zu sehen.

Die Samstagabende sind dem Vergnügen gewidmet. Man geht zusammen ins Kino, ins Theater, aber auch schwimmen, kegeln und sogar tanzen. „Zuerst“, sagt Elisabeth Kressmayer, Sozialarbeiterin und Mitbegründerin des Clubs, „haben wir gedacht, wir werden aus der Diskothek rausgeschmissen. Die Leute haben uns betrachtet wie komische Tiere, dann kam das Mitleid, und erst allmählich wurden wir akzeptiert. Schließlich haben sich die Gäste an uns gewöhnt Manche haben sogar mit unseren Behinderten getanzt“. Das ist sogar mit Rollstuhl möglich: „Der ist halt mit seinem Rollstuhl hin- und hergefahren, hat den Oberkörper, die Arme rhythmisch bewegt, und es hat ihm irrsinnig gut gefallen.“ .

Ein wenig Mut und Engagement gehören dazu, um Behinderte am täglichen Leben teilnehmen zu lassen. In einer Gruppe fühlen sich Behinderte stärker. Es ist erstaunlich, zu welchen Leistungen gerade ein Behinderter kommen kann, wenn ihm entsprechende Möglichkeiten geboten werden und es ihm gelingt, sich über Vorurteile - eigene und fremde - hinwegzusetzen. Da ist der 25jährige Peter, Student an der Sozialakademie und auf beiden Augen blind. Er nimmt trotzdem ohne Schwierigkeiten am Unterricht teil, schreibt mit in Blindenschrift oder nimmt den Vortrag des Lehrers auf Tonband auf. Den Schulweg von einer halben Stunde legt er häufig mit öffentlichen Verkehrsmitteln alleine zurück. Nach Abschluß des Studiums möchte er als Sozialarbeiter vor allem für die Blinden tätig sein.

Franz, 29, ebenfalls blind, holt neben seinem Beruf als Telefonist die Maturaschule nach. Anschließend möchte er Jus studieren. Weniger optimistisch gibt sich die achtzehnjährige Rita, Spastikerin mit epüeptischen Anfällen: „Bei mir ist das größte Problem der Transport - wer bringt mich hin, wer bringt mich zurück?“ Sie ist keine Rollstuhlfahrerin, braucht aber auf der Straße eine Begleitperson. „Einmal“, erzählt sie, „bin ich mit einer Freundin in die Stadtbahn eingestiegen, da schreit mich der Schaffner an: ,Sie san ja b'soffen!' “ Den Führerschein könnte sie erwerben, wenn die Anfälle nicht wären. Aber so muß sie jeden Tag ein Bus in das Behindertenzentrum bringen und wieder zurück. Eine andere Möglichkeit der Beschäftigung gibt es nicht für sie. „Dort müssen wir Gasanzünder und Feuerzeuge fertigstellen. Das nennt man dann Beschäftigungstherapie.“

Um Behinderte zu aktivieren und ihnen neben praktischen Betätigungen auch noch Möglichkeiten zu kreativer Gestaltung zu geben, sind außer einem Kochkurs und einem Erste-Hil-fe-Kurs auch noch eine Malgruppe und eine Theatergruppe geplant. „Wir hoffen“, sagt Willi Tauber, „daß wir bald damit beginnen können“.

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