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Die proletarische „Nationalkultur“

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Wenn die DDR seit den Begegnungen von Erfurt und Kassel im Frühjahr 1970 immer stärker die Abgrenzung von der Bundesrepublik auf allen Gebieten hervorhebt, so wäre doch die Annahme falsch, daß sie diese Politik erst von diesem Zeitpunkt an betreibt. Auf dem Gebiet der Kultur wurde das schon viel früher eingeleitet, selbst wenn es 1968 noch Äußerungen gab, aus denen zu entnehmen war, daß es der DDR um die Bewahrung der Kultur in Deutschland gehe. Gesamtdeutsche Kulturgesellschaften wurden bereits 1963 gespalten, weil es die DDR als unerträglich empfand, mit Persönlichkeiten zusammenzuarbei- ten, die westliches Gedankengut vertreten.

Eine Abgrenzung von der Bundesrepublik auf anderen Gebieten ist nach Meinung der DDR auch schon im Oktober 1959 durch die Einführung der DDR-Fahne mit Hammer und Zirkel, im August 1964 durch die Umbenennung der „Deutschen Mark“ in „Mark der Deutschen. Notenbank“ und andere Maßnahmen vorgenommen worden. Was die Kultur betrifft, behauptete im Jahr 1970 Professor Dr. Marianne Lang, Lehrstuhlinhaberin an der Parteihochschule „Karl Marx“: „Der Klassencharakter der DDR-Kultur zeichnet sich als Teil der sozialistischen Weltkultur aus, indem sie sich zugleich von der herrschenden imperialistischen Kultur der Bundesrepublik abgrenzt.“ Walter Ulbricht sprach im Jahr 1971 „vom objektiven Prozeß der Abgrenzung der beiden deutschen Staaten voneinander“, der einen Stand erreicht habe, „von dem aus es ein Zurück nicht gibt“. Fast gleichlautend haben sich inzwischen alle prominenten Politiker der SED ausgesprochen.

Daß die kulturelle Abgrenzung der DDR von der Bundesrepublik nicht als vorübergehende Erscheinung zu betrachten ist, bestätigte auch Professor Dr. Heinz Sacher, Leiter der Sektion Marxismus-Leninismus an der Technischen Universität Dresden, als er betonte, die Politik der Abgrenzung sei „keine willkürliche Erfindung oder zeitweilige Variante in der Politik der Partei der Arbeiterklasse“. 1973 und 1974 ging man noch einen Schritt weiter. So bezich tigte Ost-Berlin „die herrschenden Kreise der BRD“ der „nationalistischen Demagogie“, weil sie vom Fortbestand der einheitlichen deutschen Kulturnation ausgehe. In der DDR meint man heute, daß die SED rund ein Jahrzehnt, also bis 1955, „entschlossen für die Bildung einer einheitlichen antifaschistisch-demokratischen deutschen Republik“, also für die Wiedervereinigung Deutsch lands unter ihrem eigenen Vorzeichen eingetreten, sei. Mit keinem Wort wird indessen mehr erwähnt, daß die DDR selbst noch im Dezember 1965 ein „Staatssekretariat für gesamtdeutsche Fragen“ gründete, welches seine Tätigkeit bis Juli 1971, seit Jänner 1967 unter dem Namen „Staatssekretariat für westdeutsche Fragen“ ausübte. Auch wird kaum noch erwähnt, daß Ost-Berlin von 1956 bis 1968 die Bildung einer Konföderation zwischen der DDR und der Bundesrepublik als Vorstufe zur Wiedervereinigung Deutschlands für möglich gehalten hat.

Heute, nachdem die DDR als „souveräner und selbständiger Staat“ international hervortritt, ist sie bemüht, sich als „sozialistische Nation“ auch im Ausland zu präsentieren. Deshalb benötigt sie — nach Ansicht der SED — auch eine eigene „sozialistische auswärtige Kulturpolitik“, die sich von der auswärtigen Kulturpolitik der Bundesrepublik unterscheidet und von einer gesamtdeutschen Kultur abgrenzt.

Das Auftreten von Künstlern der

Bundesrepublik in der DDR ist seit der Forcierung der kulturellen Abgrenzung durch die DDR fast vollständig zum Erliegen gekommen. Lediglich Persönlichkeiten, welche die DDR als ihre Freunde ansieht, wurden noch zu Gastspielen in die DDR eingeladen, so zum Beispiel der Komponist Hans Werner Henze, der laut ADN „eine der progressivsten Musikerpersönlichkeiten der Bun-

desrepublik" ist und deshalb 1971 zu den 15. (Ost-)Berliner Festtagen ein Programm klassischer Musik dirigieren durfte. Ähnlich verhält sich die DDR-Führung auch gegenüber dem bei Reutlingen lebenden Meister des Holzschnitts, H. A. P. Grieshaber, der im Februar 1974 in Ost- Berlin eine Ausstellung seiner Werke eröffnen und einen Vortrag halten durfte.

Während in der Bundesrepublik von der Einheit der deutschen Kultur ausgegangen wird, stellt Ost- Berlin in den „Thesen des Nationalrates der Nationalen Front der DDR, 25 Jahre DDR — ein Vierteljahrhundert Kampf für Frieden, Demokratie und Sozialismus“ fest: „In der DDR ist eine neue sozialistische Nationalkultur entstanden, in den geistigen Grundlagen unserer Kultur sind die Ideen des Friedens und der Demokratie, des Sozialismus und des Internationalismus herrschend. Die Reichtümer des demokratischen und sozialistischen Erbes der Weltkultur wurden der Arbeiterklasse und allen anderen Werktätigen zugänglich gemacht …”

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