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Die Propheten sind immer dünn gesät

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Pflichterfüllung und Gehorsam auf der einen, die Gebote Gottes auf der anderen Seite: ein katholisches Gewissen hatte es im Zweiten Weltkrieg nicht immer leicht.

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Pflichterfüllung und Gehorsam auf der einen, die Gebote Gottes auf der anderen Seite: ein katholisches Gewissen hatte es im Zweiten Weltkrieg nicht immer leicht.

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Kurt Waldheims Verteidigung hat zwei schwache Punkte: der erste ist seine „Pflichterfüllung“ im Zweiten Weltkrieg, der andere, auf den Simon Wiesenthal zu Recht hingewiesen hat, ist der, er habe nichts von Judendeportationen und Judenvernichtungen gewußt. Trotzdem glaube ich Kurt Waldheim in allen wesentlichen Punkten.

Kurt Waldheim kommt aus einer traditionell konservativen, katholischen Familie, und er wollte auch katholischer Christ sein. Das war im Zweiten Weltkrieg nicht ganz einfach. Denn wie war die psychologische Situation eines engagierten Katholiken zwischen 1938 und 1945?

Da gab es zunächst einmal die traditionelle Gehorsamslehre, die — auch aus innerkirchlichen disziplinaren Gründen — bis heute nicht wirklich revidiert wurde („Jede Autorität stammt von Gott“).

Zwar hörten manche Katholiken in der Religionsstunde, man brauche unmoralischen Befehlen der Eltern nicht gehorchen, ja dürfe es im entscheidenden Fall gar nicht. Dabei wurde aber so getan, als ob dieser Fall ein ganz seltener wäre, sodaß der mehr oder weniger unbedingte Gehorsam die Regel bliebe.

Weiters gab es zwar die Lehre vom „gerechten“ und vom „ungerechten“ Krieg. Sie blieb jedoch weitestgehend eine Art Geheimlehre der Moraltheologen. Der einzelne Staatsbürger sei viel zu ungebildet und uninformiert, um beurteilen zu können, ob ein Krieg gerecht oder ungerecht sei.

Selbst Adolf Hitler versuchte seinen Angriff auf Polen als „Verteidigung“ darzustellen. Ein „anständiger“ Katholik konnte daher annehmen, an einem gerechten Krieg teilzunehmen, ja ihn als „vaterländische Pflicht“ zu betrachten. (Meine Freunde und ich hielten dies für einen glatten Blödsinn, dachten jedoch untypisch.)

Dann gab es noch das Problem des sogenannten Fahneneides: „Ich schwöre bei Gott diesen Heiligen Eid ...“ An sich war der Fahneneid ein Problem des ersten Gebotes Moses und eventuell auch des achten Gebotes.

Für einen agnostischen Atheisten oder atheistischen Agnostiker wie Kurt Steyrer zum Beispiel stellte der Fahneneid sicher kein Problem dar, da er einem Phantom gegenüber ja alles versprechen konnte.

Für einen selbständig denkenden Christen war nun der Fahneneid auf Adolf Hitler a priori ungültig. Denn erstens darf man Gott als Zeugen der Wahrheit nur hinsichtlich etwas Positivem oder Neutralem anrufen. Gott zum Zeugen eines verbrecherischen Vorhabens anzurufen, ist an und für sich schon etwas Böses.

Für mich persönlich war der Fahneneid eine erzwungene Gotteslästerung. Es taucht damit jedoch sofort die Frage auf, ob man sich zu einer Gotteslästerung zwingen lassen darf, denn das ist schwere Sünde gegenüber dem zweiten Gebot: „Du sollst den Namen Gottes nicht in den Dreck ziehen.“

Franz Jägerstätter beantwortete diese Frage mit Nein. Wir, die wir noch leben, mit Ja (auch Waldheim). Für Steyrer hingegen existierte das Problem, wie gesagt, ja nicht. So wir also leben, schlössen wir mit hoher Wahrscheinlichkeit Kompromisse.

Es gab jedoch genug Katholiken - bestärkt durch schwache Priester, die sich verständlicherweise nicht getrauten, heroische Forderungen zu stellen -, die den Fahneneid ernst nahmen und in ihrem Eidverständnis sich dem der SS näherten: „Unsere Ehre heißt Treue“ (bis zum Massenmord).

Als Gordon M. Zahn über Jägerstätter recherchierte, also lang nach 1945, erschien im Kirchenblatt der Diözese Linz eine Artikelserie, die in der Feststellung gipfelte, Jägerstätter sei ein anständiger Mensch gewesen, doch hätte er ein „irrendes Gewissen“ gehabt. Das echte christliche Gewissen hätten jene gehabt, die Militärdienst euch unter den Nazis geleistet hatten — und so „ihre Pflicht“ getan haben.

Hiezu kam jedoch noch ein spezifisch katholisches oder ganz allgemein christliches Argument: von 1938 bis 1945 benahmen sich die Nationalsozialisten den christlichen Kirchen gegenüber — im Gegensatz zu ihrem Verhalten den Juden gegenüber - vorsichtig zurückhaltend, während es unter Josef Stalins stählerner Hand massive Christenverfolgungen gab.

Natürlich war einem halbwegs wachen Christen klar, daß die Nationalsozialisten nur deshalb keinen Frontalangriff gegen die christlichen Kirchen starteten, weil sie die christlichen Soldaten und Offiziere im Krieg nicht entbehren konnten.

Hätte etwa Papst Pius XII. öffentlich erklärt, der Bolschewismus sei etwas Besseres als der Nationalsozialismus, und hätten die Sowjets da mitgespielt, wäre der Krieg möglicherweise um Jahre früher zu Ende gewesen. Nur hätten wir zu Tausenden wenn nicht mehr mit unserem Leben bezahlt.

Die Situation war jedoch nicht nur die, daß Pius XII. die Nationalsozialisten für weniger gefährlich, sondern für etwas Besseres hielt als die Kommunisten. Wie Gordon M. Zahn („Deutschlands Katholiken und Hitlers Kriege“) zeigte, war selbst der Bischof von Münster, Clemens August Graf Galen (FURCHE 12/1986), dafür, daß die katholischen Soldaten im Kampf gegen den Bolschewismus „ihre Pflicht“ taten.

Die US-Amerikaner mußten sich für ihren „Kreuzzug in Europa“ (Dwight D. Eisenhower) als moralischen Außenbordmotor einreden, Stalin sei ein netter Onkel („Onkel Jo“), während Win-ston Churchill hier nüchterner -kleineres oder größeres Übel — dachte.

Für mich persönlich war der Bolschewismus tatsächlich auch ein entscheidendes Problem. Bei den Engländern oder Amerikanern wäre ich übergelaufen, bei den Russen tat ich es nicht. Heute weiß ich, daß diese Haltung falsch war, doch habe ich zu dieser Erkenntnis mehr als 20 Jahre gebraucht.

Die Nationalsozialisten hatten vor, nach dem — gewonnenen -Krieg das .jüdische Christentum“ auszulöschen. So sagte man bei der SS in Rom: nach dem Krieg wird das „weiße Schwein“ (der Papst) „geschlachtet“.

Pater Leiber SJ, ein Intimus Pius' XII., meinte darüber hinaus, es sei — und hier hat er leider recht — „nicht üblich“ gewesen, sich für Nichtkatholiken zu engagieren. Dies war zweifellos ein nicht gerade christlicher Standpunkt, wenn man unter „Nächsten“ alle anderen versteht.

Zu alledem kam noch ein traditioneller christlicher Antisemitismus, der zwar nicht dazu führte, daß man den Nazis bei der Judenverfolgung half (mir ist jedenfalls kein solcher Fall bekannt), der jedoch den zu erwartenden christlichen Hilfswillen sehr häufig hemmte.

Aus all den angeführten Gründen glaube ich, daß Kurt Waldheim überzeugt war, „seine Pflicht“ bei der Deutschen Wehrmacht zu tun. Die Bischöfe unterstützten ihn in dieser Meinung — und Jugoslawiens Partisanen waren häufig Kommunisten.

Heute bin ich überzeugt, daß nicht die deutschen (inklusive der österreichischen) Bischöfe recht hatten, sondern der Pazifist Franz Jägerstätter, der sich lieber köpfen ließ, als selbst Sanitätsdienst (wie Kurt Steyrer) zu leisten, da er ja damit einen Mann ersetzt hätte, der vorne töten konnte.

Daß ein Bauer aus dem Bezirk Braunau (wo Adolf Hitler geboren wurde) besser als die Bischöfe wußte, was christliche Pflicht ist, das ist keine unchristliche Erkenntnis, sagte doch Jesus von Nazareth: „Ich preise Dich, Vater... daß Du dies vor den Weisen und Klugen verborgen, Kleinen aber geof/enbart hast. Ja, Vater, so war es Dir wohlgefällig!“ Es ist eben so, daß der „Geist weht, wo er will“ und offenbar wenig Ehrfurcht vor Hierarchien hat.

Das Gewissen ist keine feste Größe, sondern muß bis zum Tod entwickelt und entfaltet werden. Nun hätte auch Kurt Waldheim im Laufe der Zeit sein Gewissen entwickeln können, sodaß ihm im Lichte seiner heutigen Erkenntnis seine damalige Position suspekt erscheinen könnte. Aber das wäre wohl zu viel verlangt von einem Politiker.

Die zweite Schwachstelle in Kurt Waldheims Verteidigung — und hier gebe ich Simon Wiesenthal recht - ist die Erklärung, daß er von den Judendeportationen und den Massenliquidationen „nichts gewußt“ habe. Allerdings glaube ich nicht so ohne weiteres — im Gegensatz zu Wiesenthal —, daß es sich dabei um Tagesgespräche in den Offizierskasinos gehandelt hat.

Warum es in den Offizierskasinos kein Tagesgespräch war, daß man Juden zu Millionen in die Gaskammern schickte, erkläre ich damit, daß man davon nichts wissen wollte, so man anständig war und weil damit herausgekommen wäre, daß wir bei der Wehrmacht - und natürlich die Offiziere mehr als wir „einfache“ Soldaten - schließlich Schmiere standen für die Greueltaten der SS.

Und damit wäre herausgekommen, daß die verdammte, aber traditionsreiche Pflichtmoral eben ein großer Unfug war, das ganze Ordnungsgefüge zum Teufel gehörte und Widerstand, nichts als Widerstand geboten wäre.

Wahrscheinlich hat Waldheim Gerüchte oder Berichte über Judendeportationen verdrängt, nicht wahrhaben wollen, sodaß er heute subjektiv ehrlich sagt, er habe nichts erfahren, auch wenn das objektiv falsch sein mag.

Das Gedächtnis ist ein dynamischer Vorgang und kein Registrierkatalog. Es verändert sich ständig, man sieht dann Dinge „in anderem Lichte“, vergißt Wichtiges, verschiebt, ja verkehrt die Dinge ins Gegenteil. Darüber hat Sigmund Freud schon viel gesagt, wenn auch erst nach Friedrich Nietzsches berühmtem Zitat: „Das hast Du getan, spricht mein Gedächtnis, das kannst Du nicht getan haben, spricht mein Stolz. Endlich gibt das Gedächtnis nach.“

Von Waldheim weiß man, daß er meint, „seine Pflicht“ getan zu haben — leider glaubt er das heute noch. Daß Steyrer sich etwas gedacht hat, als er Soldat war, nehme ich an; daß er sich mehr dachte, als „seine Pflicht“ zu tun, habe ich noch nie gehört.

Wer nun die Vorstellung'hegt, daß ein Bundespräsidentschaftskandidat nichts verdrängen, nie etwas vor sich oder anderen kaschieren, verändern, beschönigen darf, erwartet sich einen moralischen Ubermenschen, zumindest einen Propheten.

Allerdings erreichen solche bedingungslosen Wahrheitskünder normalerweise kein hohes Alter, das sie für ein solches Amt „würdig“ werden läßt. Auch Franz Jägerstätter lebte zu kurz, um etwa den Posten eines österreichischen Bundespräsidenten einzunehmen.

Jeder Politiker aber, der von sich behauptet, er habe nie verdrängt, ist entweder ein Dummkopf oder ein miserabler Heuchler. Und letztere sind in der Politik immer noch ekliger als Sünder.

Noch ein Wort zu unseren jüdischen Mitbürgern und Freuden: Wenn Sie in diesem Land - und ich fürchte darüber hinaus in dieser Welt — leben wollen, müssen Sie bereit sein, mit jenen zu leben, die zu unwissend oder/und zu schwach waren, um alles zu tun, was die Massenmorde an Ihren Angehörigen verhindert hätte.

Von den wenigen, die alles taten, und in diesem nazistischen Sodom und Gomorrha zu den wenigen Gerechten gehörten - mehr hätte Abraham nicht gebraucht, um die beiden Städte zu retten —, von denen lebt fast keiner mehr.

Heroismus ist aber fast immer nur eine Eigenschaft von wenigen gewesen. Und noch nie von Bundespräsidenten. , Der Autor ist Psychologe. Er war Soldat der Deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, wurde an der Ostfront schwer verwundet und betätigte sich aktiv in einer katholischen Widerstandsgruppe.

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