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Die Psychiatrie ist in Bedrängnis

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Salzburg beschreitet seit Jahren neue Wege in der Behandlung psychisch Kranker. Der Vorstand der Salzburger psychiatri schen Krankenhausabteilung ist daher besonders berufen, die aktuelle Krise der Psychiatrie zu beleuchten und mögliche Aus- vyege zu weisen.

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Salzburg beschreitet seit Jahren neue Wege in der Behandlung psychisch Kranker. Der Vorstand der Salzburger psychiatri schen Krankenhausabteilung ist daher besonders berufen, die aktuelle Krise der Psychiatrie zu beleuchten und mögliche Aus- vyege zu weisen.

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Anläßlich des Falles Girardi wurde 1916 eine Entmündigungsordnung geschaffen, die verhindern sollte, daß Nicht-Geisteskranke meiner geschlossenen psychiatrischen Anstalt festgehalten werden. Das Gruseln vor dem „Lebendig-begraben-Wer- den“ ist trotzdem geblieben und bietet immer wieder Stoff für Schlagzeilen in den Zeitungen’ („Die Sanitäter hatten gleich den Verdacht, daß mit der Einweisung einer Frau in das Wagner-Jau- regg-Krankenhaus etwas nicht in Ordnung sei“, meldeten kürzlich die „00 Nachrichten“).

Formal ist diese Einweisung zwar gesetzlich geregelt: Sie soll durch den Amtsarzt erfolgen, und

zwar im Falle von Selbst- und Gemeingefährlichkeit bei Verdacht auf Geisteskrankheit; nur im Notfall, wenn Gefahr in Verzug ist, kann sie auch ohne amtsärztliches Parere erfolgen. Tatsächlich hatten wir aber 1980 nur 17 Einweisungen durch die Amtsärzte der fünf Landbezirke in Salzburg: Der Gesetzgeber hat nämlich übersehen, daß nur in den großen Städten ein Polizeiarzt um die ( Uhr zur Verfügung steht, daß in den Landbezirken der Bundesländer dagegen nachts und am Wochenende überhaupt kein amtsärztlicher Dienst vorhanden ist.

Auch die Entlassung aus der psychiatrischen Anstalt ist im Gesetz genau geregelt: sie muß bei „Heilung“ erfolgen, sonst aber nur gegen Revers der Angehörigen. Sind da Anstaltspsychiater und Angehörige nicht überfordert?

„Die 53jährige Walpurga W. fügte ihrer schlafenden Tochter lebensgefährliche Verletzungen zu. Die Frau war wegen Depression in Behandlung gestanden.“ Schuld der Angehörigen? Schuld der Psychiater?

Verständlich, daß der Anstaltspsychiater die Entlassung der Gerichtskommission überlassen möchte, die sie im Falle des Geisteskranken (dieser ist nämlich durch die Entmündigungsordnung nicht geschützt, nur der nicht Geisteskranke!) bei oft nur fünf Minuten dauernder Begutachtungsmöglichkeit in einer Rei-

henuntersuchung von 50 Patienten in einem halben Tag auch nicht verantworten kann.

So erwies sich die psychiatrische Anstalt als eine Fallgrube, in die man leicht hinein und schwer wieder heraus kommt.

Kein Wunder, wenn der Anstaltsarzt, angegriffen und des Machtmißbrauchs von der Gesellschaft verdächtigt, aber ebenso wie sein Patient von ihr in Stich gelassen, schließlich resigniert. Dazu kommt aber noch ein wesentlicher Umstand: Die Psychiatrie als Fach der Medizin sollte einen Patienten „heilen“, der gegen seinen Willen angehalten ist. Was ist das für ein Arzt-Patienten- Verhältnis? Kann man denn gegen den Willen des Patienten Psychotherapie betreiben?

Mąn kann ihn zwar mit Psychopharmaka „vollstopfen“, damit er sich beruhigt, wenn er doch

Grund genug hätte zur Aufregung: In den meisten Fällen wird ihm im Einvernehmen mit dem Gesetz der Anhaltebeschluß „wegen Gefahr der Erregung“ gar nicht zugestellt! So befindet er sich jahrelang in der Situation des Prozesses von Kafka, in der er gar nicht weiß, warum er angehalten ist! Verfolgungswahn?

Es kann daher nur nachdrücklich festgehalten werden: Die Situation der herkömmlichen psychiatrischen Anstalt ist aussichtslos! ,.Patient und Psychiater sitzen im selben Topf“, so steht es in einem Gebäude in der Anstalt Basaglias in Triest geschrieben. Beide kommen aus der Falle nicht heraus, nicht ohne Hilfe der Gesellschaft. Da nützen auch neue Anhaltsgesetze nichts.

Die italienischen Psychiater haben folgerichtig gehandelt, als sie eine Auflösung der herkömmlichen psychiatrischen Anstalt forderten. Neueinlieferungen in die psychiatrische Anstalt sind gesetzlich nicht mehr statthaft, sie müssen in die allgemeinen Krankenhäuser erfolgen, wo psychiatrische Behandlungsmöglichkeiten vorzusehen sind. Sollten wir nicht auch diesen Weg gehen?

Der erste Schritt aus dem Dilemma muß tatsächlich die Abschaffung eines im Gesetz noch immer vorgesehenen Mißbrauchs der Psychiatrie sein: von den 2.625 Aufnahmen des Jahres 1980 in Salzburg sind rund 20 Prozent mit Krankenhausparere erfolgt: Alkoholrausch nach chirurgischer

Versorgung wegen Erregung, Delirium tremens, oder aber alte Leute, die im Krankenhaus verwirrt geworden sind, ja sogar schon Krebskranke mit Selbstmordabsichten und Selbstmordversuche nach Entgiftung werden in die Psychiatrie geschickt.

Alle diese 481 Patienten könnten ebensogut in allgemeinen Krankenhäusern behandelt werden. Wir würden sie gerne dort konsi- liariter psychiatrisch mitversorgen wie in Triest und haben 1975 deswegen schon eine Krisenintervention etabliert, die im Vorfeld wirksam werden kann.

Den zweiten Schritt haben wir längst getan, nämlich den in Richtung Gemeindepsychiatrie. So

konnten wir seit 18 Jahren in Salzburg schon auf den Angehörigen- Revers verzichten, indem wir eine sektorisierte Außenfürsorge auf- bauten.

Für Patienten ohne Angehörige haben wir schon von Anfang an Nachtkliniken, seit vier Jahren auch Wohnheime außerhalb der Anstalt geschaffen. Bis Ende dieses Jahres werden es vier Wohnheime mit 110 Betten sein. Das genügt für ein Bundesland mit 400.000 Einwohnern. Freie Wohngemeinschaften sollten diese Ubergangseinrichtungen noch ergänzen.

Schon dadurch hat sich in Salzburg einiges geändert. Fast die Hälfte (46%) der zugewiesenen

Fälle konnten im Vorjahr schon von vornherein in offene Krankenstationen auf genommen werden. Nur noch ein Drittel (32,5%) mußten anfangs noch mit Parere in eine geschlossene Station kommen, der Rest blieb freiwillig in Behandlung (bei durchschnittlicher Aufenthaltsdauer von 16,4 Tagen bei uns kein besonderes Risiko).

Nur vier Prozent mußten wir der Gerichtskommission melden, die in 14tägigen Abständen zu uns kommen: die meisten der vorher Angehaltenen sind inzwischen schon entlassen oder auf offenen Stationen untergebracht, t Freilich bleibt noch ein dritter Schritt zu tun, nämlich zum Schutz des nunmehr kleinen Restes von gegen ihren Willen länger Angehaltenen. Das ist etwa bei manischen Patienten notwendig, die immerhin mehrere Wochen, manchmal Monate (sicher nicht Jahre) in ihrer Freiheit beschränkt werden müssen, da sie sich in ihrem der früheren Persönlichkeit nicht entsprechenden Expansionsdrang sonst schädigen würden, jedenfalls aber in der Großstadt sozial bald anstoßen und wieder eingeliefert werden würden.

Geisteskranke schützt ja die Entmündigungsordnung nicht, wie oben ausgeführt — diese Patienten schützt niemand! Wir haben dafür seit 1979 einen eigenen Ombudsmann von der Landesregierung beantragt und auch bekommen, einen früheren Richter, der Verstöße gegen die Menschenwürde, ungerechtfertigte Einlieferungen und Widerstände

gegen die Entlassung von seiten der Gesellschaft (z. B. von seiten der Behörden, manchmal auch der Angehörigen) zu untersuchen hat. Amtskuratoren mit über 200 Mündeln können die menschlichen Interessen ihrer .Schutzbedürftigen natürlich nicht wahrnehmen.

Wir würden uns daher bald das vorgesehene Sachwaltergesetz wünschen, das, ähnlich organisiert wie die Bewährungshilfe, psychisch Behinderten wirksam zur Seite stehen könnte.

Aus dem Beschriebenen ergibt sich ein klarer Weg aus dem Dilemma. Die Psychiatrie allein kann ohne Hilfe der Gesellschaft die Probleme nicht lösen. Untersuchungen, die wir in Wien und bei uns durchgeführt haben, ergaben seinerzeit, daß nur ein Siebtel bis ein Fünftel der in der Anstalt Eingewiesenen wegen eigentlicher neuro-psychiatrischen Störungen aufgenommen wurden, der überwiegende Teil aber wegen psychosozialer Krisen.

Wir brauchen daher vor einem neuen Anhaltegesetz ein Psychohygienegesetz, das einerseits den Ausbau zureichender psychosozialer Dienste in den Gemeinden gewährleistet und andererseits psychiatrische Dienste in allen Krankenhäusern obligat vorsieht. Für den kleinen Rest von den noch nötigen Zwangseinweisungen würden wir leicht ohne geschlossene Stationen auskom- men. Damit wäre das psychiatrische Krankenhaus ein Zentralkrankenhaus, in dem besonders psychotherapeutische (z.B. Verhaltenstherapie) und rehabilita- tive Einrichtungen subsidiär zur Verfügung stünden. Die Psychiatrie wird dann ein ebenbürtiges Fach der Medizin sein.

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