6816344-1973_11_10.jpg
Digital In Arbeit

„Die Psychoanalyse ist ein Licht

19451960198020002020

Wer sich zur Zelt mit dem französischen Katholizismus beschäftigt, stoßt immer \vie<le auf ein Reihe von Persönlichkeiten, die — im konservativen wie im progressiven Lager — der ältesten Tochter der Kirche ihren Stempel aufdrücken. Unter diesen zahlreichen Theologen, Bischöfen oder Laien hat sich Abbe Marc Oraison mit seinen zwanzig Büchern, seiner unermüdlichen Vortragstätigkeit und seinen kaum noch übersehbaren Publikationen in der Tages- und Wochenpresse einen Namen gemacht. Marc Oraison ist Arzt und Priester und wird meist als Psychoanalytiker eingestuft. Am 25. Jänner 1973 empfing Marc Oraison unseren Korrespondenten Rudolf Lewandowski und seine Mitarbeiterin Alai Keller zu einem Gespräch. Der Priester-Mediziner ging rasch über seinen Lebenslauf hinweg, der immerhin verdient, festgehalten zu werden: Am 29. Juli 1914 ist er in Ambares (Gironde) geboren. Er studierte Medizin an der Fakultät in Bordeaux und wurde 1936 Internist in einem Krankenhaus. 1942 wurde er Doktor der Medizin und trat 1943 in die theologische Fakultät des katholischen Instituts von Paris ein. 1945/46 leitete er als Militärarzt die urologische und chirurgische Abteilung des Zentralspitals von Saigon. 1948 zum Priester geweiht, erwarb er 1951 den Doktortitel der Theologie. Seit dieser Zeit beschäftigt er sich eingehend mit Problemen der modernen Psychologie und ihren Rückwirkungen auf die Theologie. Von seinen vielen Werken seien genannt: „La Mort... et puis apres“, „Le Mystere humain de la Sexualite“, „Amour, Peche, Souffrance“ und „L'Harmonie du Couple humain.

19451960198020002020

Wer sich zur Zelt mit dem französischen Katholizismus beschäftigt, stoßt immer \vie<le auf ein Reihe von Persönlichkeiten, die — im konservativen wie im progressiven Lager — der ältesten Tochter der Kirche ihren Stempel aufdrücken. Unter diesen zahlreichen Theologen, Bischöfen oder Laien hat sich Abbe Marc Oraison mit seinen zwanzig Büchern, seiner unermüdlichen Vortragstätigkeit und seinen kaum noch übersehbaren Publikationen in der Tages- und Wochenpresse einen Namen gemacht. Marc Oraison ist Arzt und Priester und wird meist als Psychoanalytiker eingestuft. Am 25. Jänner 1973 empfing Marc Oraison unseren Korrespondenten Rudolf Lewandowski und seine Mitarbeiterin Alai Keller zu einem Gespräch. Der Priester-Mediziner ging rasch über seinen Lebenslauf hinweg, der immerhin verdient, festgehalten zu werden: Am 29. Juli 1914 ist er in Ambares (Gironde) geboren. Er studierte Medizin an der Fakultät in Bordeaux und wurde 1936 Internist in einem Krankenhaus. 1942 wurde er Doktor der Medizin und trat 1943 in die theologische Fakultät des katholischen Instituts von Paris ein. 1945/46 leitete er als Militärarzt die urologische und chirurgische Abteilung des Zentralspitals von Saigon. 1948 zum Priester geweiht, erwarb er 1951 den Doktortitel der Theologie. Seit dieser Zeit beschäftigt er sich eingehend mit Problemen der modernen Psychologie und ihren Rückwirkungen auf die Theologie. Von seinen vielen Werken seien genannt: „La Mort... et puis apres“, „Le Mystere humain de la Sexualite“, „Amour, Peche, Souffrance“ und „L'Harmonie du Couple humain.

Werbung
Werbung
Werbung

FURCHE: Für die einen sind Sie eine marginale Persönlichkeit der Kirche, für die anderen ein neuer Typ des Priesters. Wohin situieren Sie sich selbst?

ORAISON: Ich stamme aus der Diözese von Bordeaux und bin jetzt in der Diözese von Paris. Ich lebe und arbeite in der Pfarrgemeinschaft „La Trinite“, wobei ich aber keine organisatorischen Aufgaben in der Kirche ausführe, weder Vikar bin, noch Unterricht erteile, sondern vollkommen autonom bin. Ich bin weder „kirchlich“, noch klerikal, und auf keinen Fall marginal. Im eigentlichen Sinne bin ich ein Mann der Kirche, aber nicht marginal und nicht systematisch.

Um meine Position von einer anderen Seite darzustellen, zitiere ich die Aussage meines Bischofs von Bordeaux, dem im Laufe einer Diskussion vom Universitätspräsidenten von Bordeaux genau dieselbe Frage gestellt wurde: „Für mich ist er ein unabhängiger und freier Mann. Ich bin nicht immer derselben Auffassung wie er, aber er veranlaßt mich oft zum Nachdenken.“

FURCHE: Sie sind bekannt als Psychoanalytiker. Die Psychoanalyse wurde von der Kirche lange Zeit mit Reserve behandelt. Wo steht die Kirche diesbezüglich heute und welcher ist Ihr eigener Standpunkt gegenüber Freud, Reich oder Jung?

ORAISON: Ich bezeichne mich nicht als offiziellen Psychoanalytiker und betrachte mich auch nicht als solchen, denn ich praktiziere ja die Psychoanalyse nicht. Aber ich lebe in der psychoanalytischen Perspektive und mit Psychoanalytikern seit ungefähr 20 Jahren. Allerdings anerkennen mich einige Psychoanalytiker als ihresgleichen. Ich bin Teilnehmer an der Weiterentwicklung der Freud'schen Entdeckungen und Erkenntnisse und verfolge mehr oder weniger die Linie von Doktor Lacan, einem der großen, aber umstrittenen französischen Psychoanalytiker, der mir sehr viel gab. Ich arbeite regelmäßig mit den Mitgliedern seiner Schule oder vielmehr seiner Anschauung zusammen.

FURCHE: Warum hat Reich einen so großen Einfluß auf die extreme Linke in Europa?

ORAISON: Soweit ich darüber urteilen kann, erscheint mir Wilhelm Reich in psychoanalytischer Beziehung nicht sehr bedeutend. Seine große Anhängerschaft beruht nach meiner Meinung auf einer soziologischen Deformie-rung der Psychoanalyse, die sehr suspekt ist. Das heißt, Reich funktionierte psychoanalytische Thesen auf linksgerichtete soziologische Ideologien um.

Die Freud'sche Psychoanalyse ist für mich wie ein Licht auf die fundamentalen, beängstigten Fragen des menschlichen Subjekts in der Beziehung zu seiner Umwelt. Sie wirft das Licht auf unlösbare Fragen des Menschen. Die extremen Linken wollen sich in eine abstrakte, systematische Soziologie flüchten, um eben dieser Frage auszuweichen. Und in diesem Fall,meine ich, umgeht Reich die Psychoanalyse.

FURCHE: Wenn Sie an unserer Stelle wären, welche letzte Frage würden Sie an Marc Oraison richten?

ORAISON: Ich würde die Frage stellen: wie sieht die Zukunft der Kirche aus? Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, daß wir in einer wichtigen, fundamentalen, bewegten Periode leben. Ich vergleiche sie mit der Epoche der Apostel, mit dem jedenfalls, was in den Akten der Apostel und in den Briefen des Apostels Paulus geschrieben steht. Die Institutionen der katholischen und protestantischen Kirche haben ihre Zeit gehabt. Typisch dafür ist beispielsweise, was unsere Beziehungen zu den Behörden des Vatikans betrifft. Wohlgemerkt, ich sage: zu den Behörden des Vatikans und nicht: zum Papst. Wir arbeiten mit gläubigen Gemeinschaften verschiedenster Formen zusammen, um den Glauben wieder zu beleben und zu vertiefen. Dies strahlt vom Zusammenbruch der Kirche der vergangenen Jahrhunderte auf das Leben einer zukünftigen Kirche aus und zwar mit einer Kontinuität, die wohl eine Unterbrechung kennt, trotzdem aber Kontinuität ist. Und ich glaube, daß wir im Begriff sind, die Epoche der Apostel wiederzuleben.

FURCHE: Das will heißen, daß Sie die Situation der Kirche optimistisch betrachten?

ORAISON: In diesem Sinne ja, aber ohne Illusionen über einen schnellen und progressiven Zusammenbruch der alten Institutionen.

FURCHE: Durch Ihre Arbeiten wollen Sie also mithelfen, die Kirche den Bedingungen des 20. Jahrhunderts anzupassen ... ?

ORAISON: Ich denke, ja. Denn wie der Kardinal von Belgien, Suenens, sagt: wenn man versucht, die Strukturen vorauszu-planen, um sich hineinzuversetzen, riskiert man, die Fehler der Vergangenheit wieder zu begehen. Wir müssen beobachten und aufmerksam verfolgen, was geschehen wird, um darin leben zu können.

Mit Marc Oraison sprach Rudolf Lewandowski.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung