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Die Rache der Sikhs

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Seit Jahren waren die Sikhs Stütze der indischen Armee. Doch seit der Ermordung der überaus populären Premierministerin Indira Gandhi sind sie zum Staatsfeind Nummer eins geworden.

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Seit Jahren waren die Sikhs Stütze der indischen Armee. Doch seit der Ermordung der überaus populären Premierministerin Indira Gandhi sind sie zum Staatsfeind Nummer eins geworden.

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Zwei Jahre sind vergangen seit die damalige Premierministerin Indiens, Indira Gandhi, der indischen Armee den Befehl gab, das größte Heiligtum der Sikhs, den Goldenen Tempel in Amritsar zu erstürmen. Ein blutiger, verlustreicher und folgenschwerer Sturm wurde das.

Der Höhepunkt war zweifellos erreicht, als im Oktober 1984 Indira Gandhi ermordet wurde und der aufgebrachte und angestachelte Mob in Delhi und anderen Städten Nordindiens Tausende Sikhs umbrachte und.Abertausende Häuser und Geschäfte von Sikhs plünderte und zerstörte. Die Genese des Sikhismus und

seine frühe Geschichte sind hierbei von Bedeutung. So alt ist er ja gar nicht. Knapp 500 Jahre ist .es her, daß Guru Nanak im Pun-jab einen neuen Glauben zu predigen begann und Hinduismus und Islam als erstarrt und überkommen ablehnte. Er war Mystiker, verwarf alle starren Rituale und Sozialhierarchien, lehrte seinen Jüngern den individuellen Zugang zu einem gestaltlosen Gott, verbunden mit weltlicher Pflichterfüllung.

Ihm folgten neun weitere Gurus “SlfitUi d\e riip Traditionen ^nd ( Symbole der Sikh-Gemeinschaft schufen. Der letzte und zehnte Guru, Gobind Singh beendete die Tradition des Gurutums und übertrug alle religiöse Autorität dem Guru Granth Sahib, dem heiligen Buch der Sikhs, das aus den Werken der Gurus und einiger früher Mystiker besteht.

Außerdem vollzog er den ersten größeren Schritt zur Loslösung aus dem Hinduismus, indem er die Khalsa (Gemeinschaft der Reinen) gründete und sie durch eine deutliche Symbolik von anderen unterschied. Seit damals dürfen sich alle wahren Sikhs die Haare nicht schneiden, müssen einen Dolch, einen Haarkamm, eine Unterhose sowie einen Stahlring und einen Turban tragen.

Diese zu 1699 in Anandpur stattgefundene symbolische Transformation der Sikh-Gemeinschaft ist auch heute noch ihr äußeres Zeichen und macht sie unverkennbar in der Reihe der Verkün-dungsreligionen als einzige, deren Angehörige durch äußere Merkmale sofort erkennbar sind.

Die Sikhs galten damals als wehrhafte Sekte der Hindus und wurden zeitweise von den Mog-hulherrschern unter Aufbietung eines Kopfgeldes verfolgt. Aus dieser Zeit stammt auch ihre mar-tiale Tradition, die eng mit der religiösen Lehre verknüpft ist. Drei ihrer Gurus starben in den Händen der Moghuiherrscher und wurden somit Märtyrer; religiöse Pflicht wurde es, den Glauben mit dem Schwert zu verteidigen.

Diese Tradition ist auch heute noch sehr lebendig. Alle Kinder wissen um die glorreichen Kampfestaten ihrer Gurus und ihrer späteren Führer Bescheid, und der Ruf zur abermaligen Verteidigung des erneut bedrängten Glaubens hat starken emotionalen Gehalt.

Die Emanzipation und die Abtrennung vom Hinduismus durchzieht wie ein roter Faden die Sikhgeschichte. Alle Sikhs sind Punjabis, und fast alle sind selber oder ihre Vorväter vom Hinduismus übergetreten. Noch jetzt gibt es viele Familien, die einen Hindu und einen Sikh-Zweig haben. War

die Gründung der Khalsa der erste Schritt zur Schaffung einer eigenen Sikh-Identität, so folgten darauf die „Gurdwara“-Reform-bewegung Anfang des Jahrhunderts und die Agitation um eine Punjabi Suba vor zwei Jahrzehnten als weitere Schritte.

Durch die „Gurdwara“-Re-formbewegung erreichten sie die Kontrolle über ihre Tempel (Gurdwaras), und mittels der Punjabi Suba Agitation erreichten sie die Neuteilung des indischen Bundesstaates Punjab, so-daß sie darin erstmals die Bevölkerungsmehrheit erlangten (zwei Prozent der Gesamtbevölkerung Indiens). Auch in der momentanen Agitation spielt die Frage der Erhaltung und Betonung der eigenen Identität eine bestimmende Rolle.

Der zweite wichtige Hintergrundbereich ist die ökonomische Entwicklung, die in Indien und im besonderen im Punjab in den letzten zwei Jahrzehnten stattfand.

Auf Grund der vorhandenen guten ökologischen (Wasserreichtum, fruchtbare Böden, mehrmalige Ernten im Jahr möglich) und sozio-politischen Bedingungen, da nach der Teilung des Punjabs im Jahre 1947 das Land vielerorts neu aufgeteilt wurde und so relativ große Besitztümer, bearbeitet und bebaut vom Eigentümer, geschaffen wurden, war die Einführung neuer hochertragreicher Weizen- und Reissorten verbunden mit neuer Technologie und staatlicher Förderungen in diesem Gebiet besonders erfolgreich.

Doch trotz der „Grünen Revolution“ und der Tatsache, daß der Punjab zum Brotkorb Indiens wurde, konnte die Armut im Punjab nicht beseitigt werden, im Gegenteil, sie nahm sogar zu. Die Gründe hierfür sind umstritten.

Da die ländliche Bevölkerung größtenteils Sikhs und die städtische Bevölkerung größtenteils Hindus sind, entstand auch hier ein Konfliktpotential. Aber auch innerhalb der Sikhs wuchs der Abstand zwischen der armen, auf dem Subsistenzniveau lebenden, Bevölkerung und den neuen relativ reichen, wohlhabenden Bau-

Diese drängten verstärkt in die Politik und verwendeten zur Mobilisierung der Sikh-Massen vermehrt eine religiöse Sprachweise. Dabei wurden sie von den orthodoxen und fundamentalistischen Kreisen unterstützt, die die zunehmende Verwestlichung, durch Auswanderung und Annahme westlicher Lebensweisen, als Gefahr für den Bestand der Sikh-Re-ligion ansahen. So wurde ein ökonomischer Konflikt in einen religiös-ethnischen umformuliert.

Inzwischen wurde sowohl von den Sikh-Führern als auch von der Zentralregierung, teils wegen Uneinsichtigkeit, teils wegen

kurzsichtigen Machtdenkens, viel zu viel politisches Porzellan zerschlagen. Die Wunden, die in dieser Zeit geschlagen wurden, reichen tief. Rückgängig gemacht werden können diese Vorgänge nicht mehr, und eine wirkliche Beruhigung der gespannten Situation ist vorerst noch nicht zu erkennen.

Im Gegenteil, die Vorfälle scheinen jetzt teilweise begründendes Moment eines stark wachsenden Hindu-Nationalismus und Chauvinismus zu werden. Indien und der Punjab gehen einer unruhigen Zeit entgegen.

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