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Die Radarstation

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Die weiße Kugel schwebte über der höchsten Erhebung des Hügels, gewaltig, groß wie eine nahe, steinerne Sonne. Wir stiegen in dem Grün der Wiese aufwärts, und sooft wir der Kugel entgegenblickten, vergaßen wir den vom Hügel verdeckten Turm, auf dem die weiße Kugel ruhte, und unterlagen der Vorstellung, die Kugel würde sich von dem Hügelsaum loslösen, um uns entgegenzurollen, uns zu überrollen.

Das Wissen um den Turm der Radarstation unterhalb der Kugel vermittelte nur flüchtige Botschaft von einer feststehenden Verankerung, unwesentlich gegenüber der abwärtsrollenden Bewegung der Kugel, die sich stärker und stärker in unser Gefühl hineinspulte. Ja, die Kugel, sie verließ den Horizont, sie verließ den Turm, ja, der Himmelskörper schob sich, glitt uns riesenhaft entgegen.

Der Nebel hier oben auf den Hügeln, der Nebel von gestern, von heute morgen, ist weggefegt, die Luft von einem Herbstblau getragen, es gibt Gebüsch, Waldflek-ken, Waldschneisen, emporflatternde Vögel, Mäuse, von Erdloch zu Erdloch huschend, nadelklares Dunkelgrün von Föhren, ferne, alles einkreisende Hügelketten, dunstige Talsenken häuserlos, menschenentleert, feuchtglänzende Birkenstämme, gelbe, vereinzelte Blätter.

Etwas ist im Begriff, geschehen zu wollen, doch flößt es keine Angst ein, obwohl die weiße Kugel von Schritt zu Schritt größer wird. Ortungen finden statt, Echolotungen von Wort zu Wort, Messungen des Abstandes entfernen schließlich den Abstand, erzeugen eine Verschiebung, eine Abdeckung zweier wandernder Punkte zu nur einem einzigen Bild. Öffnung, einrasten in das Glück der Ubereinstimmung.

Tage zuvor waren unsere Uhren in Unordnung geraten. Die Zeiger liefen einer anderen, einer unüblichen Zeitmessung entgegen, in großer, ungestümer Hast — um dann plötzlich wieder stehenzubleiben, in alten, längst überholten, schon gewesenen Zeitbegriffen verharrend. Wir versuchten, die Zeit zu erraten, sie abzuschätzen, und der Verlust des Zeitgefühls wurde zur bestätigten Tatsache wir irrten uns im Erraten der Uhrzeit um Stunden, stellten diesen Irrtum fest, ohne darüber Beunruhigung, Freude oder Trauer zu empfinden.

Der steinernen, riesenhaften Kugel entgegengehend, waren wir bereits in die Zeitlosigkeit eingebettet, und vielleicht geschah es deshalb, daß wir dem Gefühl des Uberwälztwerdens keine Angst beimaßen: jede Gesetzmäßigkeit schien aufgehoben, auch das Gesetz der Schwerkraft: Würde die steinerne Riesenhaftigkeit über uns hinwegrollen, so war sie doch sicher schwerelos, führte keine Bedrückung mit sich; Gewicht, Zeit, alles Meßbare — ein Land jenseits von uns.

An den nächsten Wegbiegungen überraschte uns die neue Sicht. Die Radarstation lag jetzt zu unserer Linken, stieg zwischen den Baumwipfeln empor, versank in ihnen, tauchte in den Waldwellen unter. Die Radarstation war ein grauer, vierkantiger Turm, umgürtet von Fenstern, Fensterscheibe dicht neben Fensterscheibe; wir sahen schimmernde Augenhöhlen, dort, unter der steinernen Kugel.

Später, in der Dämmerung, weit entfernt von uns, verwandelte sich die Zinne des Turms in ein Band bläulichweißer Lichtpunkte. Die steinerne Kugel über diesen Lichtpunkten wurde kleiner und kleiner, sickerte in die Dunkelheit ab. Wir trugen die Erinnerung an die Möglichkeit des Gleitens der Kugel noch in uns, wanderten von Hügel zu Hügel, an glänzenden Erdschollen umgepflügter Äcker vorbei. Doch alles das fand später statt, viel später, ohne daß die Zeit des Tages wirklich in uns verstrichen wäre.

Vom Tal aus ist die Radarstation nicht mehr zu sehen. Im Tal steht das Haus. Durch den Sockel deines Hauses laufen Risse. Das Haus steht doch noch gar nicht so lange, kaum ein paar Jahre, und jetzt schon diese Risse und Sprünge? Grashalme steigen daraus empor, zähe, harte Halme, mit Wurzeln, den Grundfesten des Hauses entgegenstrebend.

Wir gehen rund um das Haus, versuchen die Halme zu entfernen, sie könnten, stetig kräftiger wachsend, in jahrelanger zärtlicher Umklammerung die Wände des Hauses zum Bersten bringen.

Zu solch unaufhaltsamer Zerstörung ist das Haus nicht gebaut worden, ich weiß, du brauchst die Wände, das Dach, den Schutz.

Belehrende Worte, die über uns herfallen: „Die Sprengkraft des Frostes ...“: Weisheiten aus den Erfahrungsbereichen anderer Menschen, folgenschwere Weisheiten, nicht wahr? Und dennoch spielen sich die daraus entspringenden notwendigen Handlungen unter ganz anderen Vorzeichen ab, ja, sie spielen sich ab: Es ist keine Arbeit, die wir da beginnen, und wir sehen keine tiefere Bedeutung in ihr.

Gegenstände, Werkzeuge laufen uns entgegen, als hätten sie schon auf uns gewartet. Eimer, Spachteln, eine graue staubige Masse in einem Papiersack, dessen Aufschrift wir nicht beachten. Wir entdecken erst später, daß das, was wir mit Wasser vermischen, nicht Zement ist, sondern ein Pulver zum Verkleben von Fliesen. Gleich darauf leuchtet uns das Wort frostsicher tröstend aus der Inhaltsbeschreibung entgegen, wir sehen uns an und lachen.

Nein, es kann uns eigentlich gar nichts geschehen, es kann auch dem Haus gar nichts geschehen; wir schneiden in die Kanten eines Plastiksackes ein kleines Dreieck, basteln eine Spritztüte, können den dunkelgrauen Brei dadurch auch in alle senkrechten Risse tief hineinpressen.

Und zum Schluß, als wir alle Ritzen aufgefüllt haben, sind wir schon Kinder geworden: knien nebeneinander, haben Werkzeug und Spachteln längst irgendwo, rund um das Haus, liegengelassen, verschmieren mit Daumen und Zeigefinger die Fugen, glätten und formen alles zu einem einheitlichen Zusammenhang: Wände, Boden, Hohlkehlen. Sehr wichtige, bedeutsame Handgriffe, sie sind unbedingt an der Lehmburg oder dem Sandschloß auszuführen, und wehe dem, der die Kinder bei diesem Tun unterbricht.

Du hast eigentlich wenig gesagt, in diesem stundenlosen unaufhörlichen Empor eines Tages, aber ich habe verstanden: Du bist stark geworden, hast dich an eine Einsamkeit gewöhnt, brauchst sie weder suchen noch fliehen — doch du benötigst das Haus, darüber gestülpt. Es bleibt da wenig zu tun für mich: höchstens, dir zu helfen, bei allem, was das Haus und seine Instandhaltung betrifft.

Schon auf dem Weg hinauf über die Wiese, während die steinerne Kugel auf uns zurollte, schon dort muß ich das gewußt haben. Ja, du wirst an der offenen Türe dieses Hauses stehen. Ja, du wirst hinauf zu den Hügeln blicken und klare Luft atmen. Unauslotbares wird ausgelotet werden für den behutsamen Wanderer.

Und da wird schließlich viel Glück über der Landschaft liegen.

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