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Die Redlichkeit als Maß

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Hier spricht einer, der über die doppelte Gefahr Bescheid weiß: Einerseits droht von den Begriffen her die lebensgefährliche Erstarrung, andererseits kann ein Leben ohne begriffliche Klärung in Gewaltsamkeit ausarten. Er verfügt über das umfassende Herzens- und Augenmaß, das einzuschätzen vermag, wieviel an Begrifflichkeit das Leben jeweils erträgt, wieviel an Le-

bendigkeit den Begriffen nötig ist, damit sie sich der Wirklichkeit einigermaßen annähern.

Rudolf Kirchschläger ist weder Ideologe noch Pragmatiker. Er ist frei von der Erbsünde der Politiker, frei davon, die Wirkung vor das Wesen zu stellen und die Wirksamkeit über deren Ursachen zu erheben. So gibt er geistigen Zielsetzungen Gestalt und vergeistigt zugleich die Anforderungen des Tages zum Symbol des Allgemeingültigen.

Nun sind es zwei Reden zu gegebenem Anlaß, die jetzt in einem Büchlein zusammengefaßt vorliegen. Ein kleines Buch mit großem Inhalt, nicht nur hinsichtlich der Spannweite der Gedanken,

sondern auch des persönlichen Erlebnisses, das uns Kirchschläger hier erschließt. Denn dieses reicht von der Volksschule in Rosenau bei Windischgarsten, wo das Kind lesen gelernt, bis nach Lublin, wo ihm die Universität die Ehrendoktorwürde verliehen hat.

War es in der Frühe seines Lebens die Notsituation nach dem Tode des Vaters, die ihn ethisch prägte, so vollendete sich in seiner Präsidentschaft, was in ihm in jungen Jahren angelegt worden ist. In seiner Freiheit des Denkens und Tuns, in seiner Lebensweise, wo Wort und Tat übereinstimmen, Rechtschaffenheit den Dienst am Menschen, Ehrfurcht aber die Gesinnung in diesem Dienst bestimmt, stellt Rudolf Kirchschläger für viele Österreicher die spirituellste Erscheinung des politischen Lebens in der Zweiten Republik dar.

In seiner Rede zur Eröffnung der 39. österreichischen Buchwoche, gehalten im Prunksaal der

österreichischen Nationalbibliothek am 12. November 1986, kommentiert Rudolf Kirchschläger seine Pensionierung folgendermaßen:

„Vielleicht kann die Größe dieses Geschenks so ganz nur der ermessen, der die Belastung auferlegter Machtlosigkeit oder die Bürde einer Putativmacht im Leben erfahren hat, oder auch der,' welcher die Verantwortung der Handhabung gegebener Macht in oft bestehenden Spannungsverhältnissen zwischen Machtausübung und Beachtung der ethischen Normen kennt.“

Dieses Geschenk, machtlos sein zu dürfen, gibt Rudolf Kirchschläger aber auch die Souveränität, mit der er den Dauerkrisen der Menschheit gegenübertritt: Der Spannung zwischen Individuum und Staat, zwischen Uber-legung und Tat, zwischen Gemeinschaftsverantwortung und Selbstbezug, Geist und Buchstaben, Leben und Lesen. Und wenn er als Bundespräsident immer

verschmäht hat, die üblichen Techniken der Redner in Gestik, in Mimik und Stimmführung zu gebrauchen, so wird uns hier an diesen Texten wieder bewußt, welch bedeutender und suggesti-' ver Redner dieser rechtschaffene Denker doch ist. Ein empfehlenswertes Erlebnis für alle Klassen des Staatsvolkes und dessen Schulen.

Es gehört zu Rudolf Kirchschlägers Bescheidenheit, daß er die Tiefe und Mark Aurelsche Strenge des hier vorliegenden Credo durch den Titel „Gedanken eines österreichischen Pensionisten“ zu entschärfen trachtet. Aber für Kirchschläger, das „Staatsoberhaupt“, das in seiner Funktion niemals Rollen gespielt hat, sondern durch und durch Existenz war, gilt der sogenannte Pensionist nur in dem Maße wie für Franz Grillparzer „Der arme Spielmann“.

LEBEN UND LESEN. Gedanken eines österreichischen Pensionisten. Von Rudolf Kirchschläger. Verlag Kremayer & Scheriau. Wien. 42 Seiten, öS 78,-.

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