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Die Reise nach B.

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Herr Maram war mit seiner schwan­geren Frau in die nächstgelegene Stadt gefahren. Er hatte dort bei einem An­walt Verträge zu unterzeichnen. Da­nach waren sie bei Freunden zum Mit­tagessen eingeladen. Ausgerechnet im Eßzimmer jenes Hauses kamen die We­hen über Frau Maram. Sie kamen völ­lig unerwartet. Sie waren so stark, daß Frau Maram zusammengebrochen wäre, hätte ihr Mann sie nicht aufge­fangen. Sofort wurde ein Arzt gerufen. An einen Transport in das Kranken­haus war nicht mehr zu denken. Die Aufregung war groß. Frau Maram war in besonderem Maße verkrampft. Der Arzt hatte alle Hände voll zu tun. Das Wohnzimmersofa wurdezum Kreißbett umfunktioniert. Es ist eine eigenartige Fügung, dachte Herr Maram. Daß das Erstgeborene meiner Frau just in dem Augenblick zur Welt kommt, in dem der volle Mond so rötlichgelb über dem Horizont erscheint. Frau Maram at­mete bald wieder regelmäßig. Und das Kind, ein Knabe, hatte seinen ersten Schrei getan.

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Die jungen Eltern blieben mit dem Kind noch zwei Tage bei den Freunden. Am dritten Tag wurde der Zeitpunkt der Rückreise mit vierzehn Uhr festge­setzt. Nach dem Mittagessen wurde noch ein wenig geplaudert. Später lag das Kind mit offensichtlichem Vergnü­gen an der Brust der Mutter. Trotz der kalten Jahreszeit schien die Sonne hell und warm vom Himmel. Das Ehepaar verabschiedete sich von den Freun­den .. .

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Schnell hatten sie die Stadt verlas­sen. Danach wurde der blaue Himmel zusehends grauer. Nach wenigen Minu­ten zogen Gewitterwolken auf. Blitze waren zu sehen. Donner folgte. Es be­gann zu regnen. Bald waren es keine Tropfen mehr, die zur Erde fielen. Das Wasser ergoß sich in einer einzigen Masse zu Boden. Die Scheibenwischer des Automobils versagten. Herr Ma­ram meinte, die Umrisse eines Gebäu­des am Straßenrand erkennen zu kön­nen. Er hoffte, das Auto dort besser als auf der Straße abstellen zu können. Er fuhr sehr langsam. Sehr vorsichtig. Be­vor er von der Straße abbog, blickte er zurück zu Frau und Kind. Was er sah.

hätte Herrn Maram beruhigen können. Er ist aber erschrocken. Weder Frau Maram noch das Kind ängstigten sich in dieser unheimlichen und nicht unge­fährlichen Situation. Seine Frau lä­chelte. Blickte heiter und gelöst durch das Wagenfenster. Der Knabe lag mit weitgeöffneten Augen im Arm seiner Mutter und blickte ebenfalls hinaus. Was sehen die beiden da draußen, dachte Herr Maram.

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Aber er war bereits nervös. Und er hatte keine Zeit, diesen Gedanken wei­ter zu verfolgen. Er mußte sich auf das Lenken des Fahrzeuges konzentrieren. Das Gebäude war nun etwas deutlicher zu erkennen. Nur wenige Meter noch und Herr Maram hatte es erreicht. Da sah er, daß er zu einer Kirche gekom­men war. Das störte ihn nicht. Er sah, daß um diese Kirche ein Weg herum­führte. Er lenkte sein Fahrzeug an jene Seite des Gebäudes, die dem Unwetter abgewandt war. Wie erwartet war der Regenschwall dort bedeutend schwä­cher. Herr Maram parkte ganz nahe der Wand. Er war froh, dem Toben der Elemente nicht ganz so stark ausgesetzt zu sein wie vorher auf der Straße. Und doch. Mit jeder Sekunde wurde Herr Maram ängstlicher als je zuvor ...

Herr Maram wandte sich um. Er, der sonst immer über den Dingen stand. Er suchte in seiner Not Schutz bei Frau und Kind. Er sah dasselbe, das er vor­her gesehen hatte. Frau Maram blickte durch das Wagenfenster hinaus in den strömenden Regen. Und lächelte. Den Knaben hielt sie nun aufrecht. So wie sie blickte auch das Kind hinaus. Und lächelte. Nie hätte Herr Maram ge­dacht, daß ein drei Tage alter Säugling lächeln könne. Von jetzt an blieb Herr Maram weiterhin nach rückwärts ge­wandt sitzen. Denn durch die Heck­scheibe des Autos blickend sah er, daß trotz des Regens einige Menschen aus der Kirche ins Freie getreten waren. Ei­nen Augenblick standen sie unent­schlossen da. Dann näherten sie sich dem Auto des Herrn Maram. Und schon waren es mehr Leute. Und im nächsten Moment noch mehr. Ihm war klar, daß die Menschen nur aus der Kir­che kommen können. Seiner Überle­

gung nach mußte die Kirche vollge­stopft mit Leuten gewesen sein. Zu sei­ner Überraschung drehte jetzt Frau Maram das hintere Seitenfenster des Wagens herunter. Hielt ihr Kind noch immer aufrecht. So, daß man es von au­ßen gut sehen könne. Und da waren schon die ersten beim Auto angelangt. Ohne richtig stehenzubleiben drängten sie sich doch ein wenig vor dem Auto zusammen. Blickten zum offenen Fen­ster hinein. Lachten fröhlich und ausge­lassen. Winkten Frau Maram und ih­rem drei Tage alten Sohn zu. Gingen dann weiter. Frau Maram hielt jetzt ihr Kind nur mit einer Hand. So, daß es mit seinem kleinen Rücken an ihrer Brust lag. Mit der anderen Hand winkte sie ihrerseits den vorbeigehen­den Menschen zu. Lachte. Auch ihr Sohn lachte.

Das Unwetter war vorbeigegangen. Der Himmel hellte sich auf. Die Wol­ken verschwanden. Nun war zu erken­nen, daß hinter der Kirche ein großer Wald lag. Herr Maram sah, wie gerade die letzten Menschen zwischen den Bäumen verschwanden. Seine Frau kurbelte das Wagenfenster hoch. Setzte sich in den Polstern zurecht. Hielt ihr Kind wieder in beiden Armen. Begann, ein altes Wiegenlied zu summen. Herr Maram startete das Automobil. Fuhr los.

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Bald nach dem Abendessen ging Herr Maram ins Schlafzimmer. Ein wenig später kam seine Frau mit dem Sohn. Schon vor der Abreise nach B. war eine Wiege vorbereitet worden. Nach eini­gen Minuten war das Kind darin einge­schlafen. Seit seiner Rückkehr hatte Herr Maram nur wenig und belanglo­ses gesprochen. Jetzt lag er neben seiner Frau im Bett. Sagte nach einer Weile: Nachmittags? Wie war das während der Heimfahrt? War da ein Gewitter? Kannst du dich an Menschen erinnern, die aus einer Kirche gekommen sind? Habe ich geparkt während dieser Fahrt? Frau Maram sah ihren Mann mit großen, erstaunten Augen an. Ant­wortete ni^ht. Herr Maram war zu müde, um weiterzureden. Er vermeinte nur noch, ein leises Lachen zu hören! Aus jener Ecke des Zimmers, in dem die Wiege stand. Dann war er einge­schlafen. Am nächsten Morgen merkte Frau Maram, daß ihr Mann nichts mehr von den Ereignissen wußte, die während der Heimreise aus B. gesche­hen waren.

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