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Die relative Krise

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Die Jahre des ungebremsten Wirtschaftsaufschwunges sind auch für den Norden Europas zunächst einmal vorbei. Die Vorschläge für die Budgets - in Schweden und Norwegen dauert das „Finanzjahr“ von April bis April, Budgetdebatte ist daher im Winter -sind von sehr gedämpftem Optimismus geprägt. Sie ähneln einander sehr stark, gleichgültig ob sie nun von Sozialdemokraten oder von Bürgerlichen erstellt wurden: Rekordverschuldung gegenüber dem Ausland, erhöhte Steuern und Tarife - und keinerlei Aussicht auf eine Besserung der Lage in absehbarer Zeit.

Die Schweden müssen in diesem Jahr erstmals seit dem Krieg einen Reallohnrückgang in Kauf nehmen, die Dänen ebenfalls, wenn die Industrie sich an die vom Staat verschriebenen Lohnzuwachsraten hält. Norwegen hat in seinem Haushaltsplan nur Platz für Einkommenssteigerung bei denen, die am allerwenigsten verdienen und muß den Sechsjahresplan zunächst verschieben, der die Bauern auf das Lohnniveau der Arbeiter bringen sollte. In Finnland müssen die Gehaltsempfänger als Folge eines Lohn-Preis-Stopps auf zwei bereits fix ausgehandelte Erhöhungen verzichten, die erst mit einem halben Jahr Verspätung zur Auszahlung kommen werden.

Die OECD plaziert ihre einstigen Spitzenreiter Schweden und Dänemark ans Ende ihrer Rangliste, wenn sie vom Wirtschaftswachstum für 1978 spricht. Norwegen steht wegen des Nordseeöls etwas besser da; aber auch dort ist jede neue Prognose ungünstiger als die zuvor abgegebene. Noch im Oktober hatte man mit einer Wachstumsrate von dreieinhalb Prozent gerechnet und vor diese Zahl ein „nur“ gesetzt. Keine drei Monate später spricht man von „Nullwachstum“ und ist froh, wenn man einen Rückgang vermeiden kann. Die Industriezweige, die nichts mit dem öl zu tun haben, ringen ums Uberleben. Eben hat der Staat den Elektrokonzern Tandberg übernommen, der rettungslos in die roten Zahlen geraten war. Das Problem der norwegischen Industrie ist die Belastung mit hohen Lohn- und Zinskosten, mit der die Produkte, so hohe Qualität sie auch haben, für den Weltmarkt einfach zu teuer werden. Mit den gleichen Sorgen kämpfen auch die schwedischen und dänischen Exporteuere. Das einzigartig hohe Lohnniveau - in Dänemark liegt der gesetzliche Mindestlohn trotz Kursverlusten der Krone bei etwa 14.000 Schilling pro Monat - müssen die Länder des Nordens mit verringerter Konkurrenzfähigkeit im internationalen Handel bezahlen.

So ist es kein Wunder, daß Auslandsverschuldung und Handelsbilanzdefizit erschreckend wachsen. Schweden hat für jeden seiner Einwohner 10.000 Kronen im Ausland geliehen, in Norwegen sind es gar 25.000 Kronen pro Kopf der Bevölkerung; dort hat man mit diesem Geld allerdings den Ausbau der ölbohrstation finanziert und kann daher - im Gegensatz zu den Nachbarn - in absehbarer Zeit auf eine Umkehr des Kapitalflusses hoffen. In Schweden ist die Auslandsverschuldung in den Brennpunkt der politischen Debatte gerückt. Die hohe Kreditwürdigkeit, die das Land nach wie vor im Ausland genießt, beruht zu einem nicht geringen Teil auf den Uranvorkommen, über die Schweden verfügt Sie betragen 80 Prozent der gesamten europäischen Bestände und werden wertmäßig den gesamten Ölvorkommen in der Nordsee gleichgesetzt. Das Uran liegt aber unberührt in Schwedens Bergen und soll - wenn es nach dem Willen des Ministerpräsidenten Thorbjörn Fälldin geht - dort bleiben. Der Kernkraftgegner Fälldin will den für Atomkraftwerke notwendigen Rohstoff weder selbst verwenden noch exportieren. Oppositionsführer Olof Palme hat ihm vorgeworfen, es sei unehrlich,mit dem Uran als Sicherheit im Ausland riesige Kredite aufzunehmen und zu Hause den Abbau dieses edlen Stoffes zu hintertreiben.

Die Auslandsverschuldung wird durch das wachsende Defizit der Handelsbilanzen verschärft; die Bilanzen können nicht verbessert werden, da die Industrie mit den Absatzschwierigkeiten nicht fertig wird. Die Verkaufsprobleme auf dem Weltmarkt führen direkt zum nächsten Problem, mit denen die nordischen Länder zu kämpfen haben, zur Arbeitslosigkeit. Viele Unternehmen müssen den Spargang einschalten, um überhaupt zu überleben. An Einstellung von zusätzlichen Arbeitskräften ist da nicht zu denken. Doch der Zustrom zum Ar-beitsmarkt hält an. Geburtsstarke Jahrgänge, die die Schulen verlassen, spielen da ebenso eine Rolle wie die Tatsache, daß immer mehr Frauen Arbeit suchen. In Dänemark und Finnland hat die Zahl der Arbeitslosen in den Wintermonaten die 200.000-Marke erreicht, womit sie mehr als 10 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung ausmacht.

Freilich sind diese Zahlen mit Vorsicht zu genießen. Dänemarks Arbeitgeber behaupten, die wahre Zahl der Arbeitssuchenden sei nicht halb so hoch; der Rest habe sich nur wegen der Arbeitslosenunterstützung registrieren lassen. Tatsache ist, daß manche Unternehmen Schwierigkeiten, haben, Arbeitskräfte zu finden - trotz Arbeitslosigkeit. Tatsache ist aber auch, daß es allzuviele gibt, die gerne arbeiten würden, aber jahrelang keine Chance bekommen. In Dänemark war die Gewährung der Arbeitslosenunterstützung an die Klausel gebunden, daß man innerhalb der letzten vier Jahre 26 Wochen Arbeit gehabt haben mußte. Nun, vier Jahre nach der „Ölkrise“ und dem Beginn der hohen Arbeitslosenraten, mußte man diese Klausel streichen. Zu viele wären in die Klemme gekommen.

In Norwegen und Schweden sind die Arbeitslosenquoten geringer, die Beschäftigungslage zumindest in Schweden aber nicht besser. Die Arbeitslosigkeit wird versteckt: in Schweden sind neben 76.000 Arbeitslosen 184.000 Menschen registriert, die in kurzfristigen „Arbeitsbeschaffungsprojekten“ arbeiten oder gerade umgeschult werden. 80.000 Arbeiter wurden vor der Zeit pensioniert. Außerdem haben die Großindustrien in den letzten Jahren auf Vorrat produziert, um mit vollem Beschäftigtenstand weitermachen zu können. Jetzt sind die Lager gefüllt mit Waren, die niemand kaufen will. Wer möchte ein Auto haben, das zwei Jahre lang in einem Vorratslager gestanden ist und darüber hinaus teurer als Neuwagen aus anderen Ländern? In Norwegen waren bei Jahreswechsel nur 20.000 Arbeitslose registriert, weil die Regierung der Vollbeschäftigung unbedingte Priorität einräumt. Doch 1978 wird auch dort diese Zahl wachsen. Die OECD hat Norwegen geraten, den Kurs der Wirtschaftspolitik überhaupt umzulegen und eine höhere Arbeitslosenrate in Kauf zu nehmen; anders sei der Industriekrise nicht zu begegnen. Mit dem öl als einzigem „Gesundbrunnen“ kann das hochentwickelte Land nicht über die Runden kommen.

Krise also im Norden Europas? Zweifellos! Doch der Begriff „Krise“ ist relativ. Deutschlands Bundeskanzler Helmut Schmidt hat die Relationen bei seinem letzten Dänemarkbesuch etwas zurechtgerückt. Man dürfe nicht vergessen, meinte er, daß ein Arbeitsloser in Dänemark in weit größerem Wohlstand lebe als ein Arbeitender in Osteuropa mit einer 42- oder 44-Stun-den-Woche. Und wenn man einen kurzen Blick auf die Länder der Dritten Welt wirft, dann darf man das Wort „Krise“ im Zusammenhang mit Europas Industriestaaten lieber nicht in den Mund nehmen.

Dänemarks Wohlstand wird 1978 nicht weiter steigen; im Gegenteil, er wird auf das Niveau von vor zwei Jahren zurückfallen. „Na schön“, schrieb „Berlingske Tidende“, die fuhrende Tageszeitung in “ einem Leitartikel. „Sind wir vor zwei Jahren nicht satt geworden? Haben wir kein Auto gehabt? Haben wir kein Geld für Weihnachtsgeschenke ausgegeben? Sind wir damals vielleicht nicht auf Urlaub gefahren?“

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