7035187-1989_46_03.jpg
Digital In Arbeit

Die Revolution -ein Volksfest

19451960198020002020

Das Schandmal mitten durch (West-) Berlin hat Löcher bekommen. Was wird aus der ehemaligen Hauptstadt, aus beiden Deutschländern? Im Rausch fragt noch niemand danach.

19451960198020002020

Das Schandmal mitten durch (West-) Berlin hat Löcher bekommen. Was wird aus der ehemaligen Hauptstadt, aus beiden Deutschländern? Im Rausch fragt noch niemand danach.

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn Deutsche schon einmal rebellieren, dann muß das im Museum verewigt werden. Ganz ernsthaft. Jedenfalls forderte dies letzte Woche die DDR-Oppositionsbewegung „Neues Forum“ vom SED-Kulturminister Hoff mann. Er möge doch die Banner und Plakate der Massendemonstrationen von Rostock bis Karl-Marx-Stadt im „Museum für deutsche Geschichte“ präsentieren, bitten ihn die Wortführer der neuen Bewegung.

Und prompt druckt die Parteipresse den offenen Brief tags darauf ab.

Die Herrschenden tragen es mit Humor, so scheint es. Und es sind sie, die die Ereignisse zum Überschlagen bringen. Forderte das DDR-Volk auf der Straße: „Besser einer geht und alle bleiben, als das ganze Volk vertreiben“, so ging er längst, der Dachdecker Honecker samt Ehefrau, der vor kurzem noch allmächtigen Volksbildungsmeisterin.

Und der neue „Wendehals“, wie Egon Krenz fast liebevoll genannt wird, ruhte nicht aus, sondern holte aus zum historischen Schattensprung: „Ohne Visa von Berlin bis Pisa“, dieser Demonstrationsruf muß nicht mehr im Museum verewigt werden. Die Realität holte ihn ein. Das Brandenburger Tor öffnete sich.

Die Ostdeutschen können nun frei reisen. Und sie gehen „hinüber“ zu den Westdeutschen. Einfach so. Lautstark singen sie im Chor:„Es geschah eine kluge und sanfte Revolution.“ Ob grün, ob republikanisch, ob SPD-rot oder CDU-blau -man glaubt auf einmal an dieses den Deutschen doch so suspekte Wort. Helmut Kohl will unbedingt dabei sein und unterbricht deshalb seine „historische“ Polenreise. Peinlich für alle Nachbarn. Denn während der Kanzler - man schreibt den 10. November 1989 - auf einer großen Freiheitsdemonstration vor dem Berliner Rathaus Schöneberg das Deutschlandlied anstimmt, will dies keiner hören. Der erste Mann im Staat singt ohne Volk. Aus den Bierhallen grölt es stattdessen unbekümmert: „So ein Tag, so wunderschön wie heute.“

Spielen die Deutschen Revolution, spielen sie Volksfest. „Daß ick det noch erleben durfte“, seufzt eine Altberlinerin, die sich über das Nachthemd flink einen Mantel überzieht, als sie hört, ab nun herrsche freie Fahrt in die „verbotene“ Hälfte der einstigen Hauptstadt.

„Ein Wahnsinn, ein wunderbarer Wahnsinn“, sagen die Menschen, ob sie nun mit dem Rad durch das Brandenburger Tor radeln oder direkt von der Abendschicht hinüber mit dem Trabi. „Auf den Tag habe ich 28 Jahre gewartet. Ich will nur mal sehen, wie meine Straße im Westen weitergeht.“ Auf der Mauer sitzen Leute, sitzen Berliner. West oder Ost? Wer fragt danach? Eine Gruppe klettert einfach auf ein Wachhäuschen der DDR-Posten. Der Polizeünajor lacht dazu: „Aber fallt nicht herunter!“ Ist das noch die Mauer?

Die Bilder lösen einander ab. Während die einen kommen, gehen andere wieder hinüber zur Arbeit oder endlich ins Bett, wenn sie glauben, genug erlebt und gesehen zu haben. Ostberliner Schulklassen sind dabei mit ihrer Lehrerin. Die Kinder lachen: „Wir machen Geschichtsunterricht live.“

Und dann der Kurfürstendamm, Auslauf der Gefühle. Trabis neben Mercedes, die sich der Flanierbewegung anpassen müssen. Keine Sprechchöre, keine Slogans. An der Ecke zur Gedächtniskirche Gespräche von Ungläubigen, die sich selbst das größte Wunder sind.

Es wird keine Barrikade gestürmt, keine Betonplatte gesprengt. „So ein Tag, so wunderschön wie heute“, singen die Berliner immer wieder. Und vergewissern sich: Endlich ist die Zeit vorbei, wo sie sich heimlich auf der Transitstrecke treffen mußten, endlich vorbei die Notlügen, eine Cousine sei im Westen todkrank, weshalb man unbedingt „rüber“ müsse, vorbei das Gefühl, alt werden zu müssen, um als Rentner endlich frei reisen zu dürfen; vorbei jene trostlosen Tage, an denen man sich nur mit drei Worten beschäftigte, und zwar in dieser Reihenfolge: Mauer, Westen, rüber.

Die Menschen behaupten, die Stadt sei keine Insel mehr, werde kein Inselleben mehr führen. Kreuzberg (im Westen) oder Prenzlauer Berg (im Osten), die verödeten Zonen der beiden Stadtgrenzen, heruntergekommen zu Ghettos von Ausländern, Armen und Alten, werden über Nacht zu Brennpunkten deutscher Geschichte. Hier wird gefeiert. Der Fußballverein Herta-BSC spendet für sein Spitzenspiel gegen Wattenscheid 09 mehr als 10.000 Freikarten für DDR-Bürger im geschichtsträchtigen Olympiastadion während die DDR-Jugendorganisation FDJ verlauten läßt, die junge Generation sei in ihren Herzen, in ihren Köpfen so betrogen worden, daß es schwer werde, um ihr Vertrauen zu kämpfen.

Aber diese Nachricht geht ebenso unter wie der Selbstmord des Ersten Sekretärs der SED-Kreisleitung Kothen, Herbeft Heber, der als dritter führender Parteifunktionär sich in den vergangenen Tagen das Leben nahm.

Wer bekam noch mit, daß das sowjetische Monatsmagazin „Sputnik“, genau vor einem Jahr wegen angeblich „antisozialistischen Inhalts“ spektakulär verboten, nun wieder am Kiosk in der DDR zu haben ist, und immer mehr polnische Staatsbürger anfragen, ob sie denn nicht auf Dauer in den Arbeiter- und Bauernstaat übersiedeln könnten - in Oberschlesien fühlten sie sich nicht mehr wohl.

Hoffnung scheinen sie in die DDR zu setzen wie eben auch der bundesdeutsche Staatssekretär Erich Riedl, der sich bereits mit dem Gedanken trägt, ein einzelner Großraumflughafen wäre für Berlin besser als die unzähligen kleinen zur Zeit. Der ausgebürgerte Sänger Wolf Biermann macht sich Gedanken, was er demnächst in Ostberlin vortragen soll - bei seinem ersten Konzert seit Jahrzehnten.

„Wir sind das glücklichste Volk der Welt“, ruft Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper im Freudenrausch den Menschen zu. Und Hunderttausende bevölkern den Ku'damm, Millionen reisen in einer Stippvisite schnell über den Eisernen Vorhang zu den Verwandten; nehmen bis zu 15 Stunden Wartezeit an der deutsch-deutschen Grenze in Kauf; stehen mehr als sie reisen.

Und SED-Führer Krenz greift sich an den Kopf. Weshalb ließ er seinen Propagandaminister Scha-bowski einfach so nebenbei auf einer Pressekonferenz die Mitteilung machen, daß ab nun die Grenze offen sei? Wäre er doch lieber selber zur Mauer gegangen - mit Hammer, Sichel und Meißel, hätte symbolisch ein Loch geschlagen und erklärt: Landsleute, Genossen, ab nun sind wir frei. Er wäre vielleicht in die deutsche Geschichte eingegangen, nicht als farbloser Übergangsparteichef, sondern als neuer Bismarck.

Den Segen der Kirche bekam er ja schon, dieses Chamäleon, das noch vor zwei Monaten die chinesischen Studentenmörder in Schutz nahm und den Aufruhr in Fernost als Konterrevolution beschimpfte, der man den Garaus machen müsse. Krenz, dieser Name stand in der DDR für Angst, Angst, es könne sich ein „himmlischer Frieden“ auf dem Alexanderplatz wiederholen. Doch nun erklärt Günther Krusche, Generalsuperintendent von der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg: „Egon Krenz wandelte sich vom Saulus zum Paulus.“

Niemand stellt in diesem Augenblick Fragen. Nein, niemand erinnert sich an die Geschichte. Und das ist besser so, denn keiner weiß eine Antwort, wie's weitergehen soll. Stehen die Deutschen vor einer Wiedervereinigung? Löst sich die DDR wie eine Brausetablette auf? Oder entwickelt sich erstmals ein ostdeutsches Staatsbewußtsein, ein eigener Stolz, eine eigene Identität? Wie geht es wirtschaftlich weiter, wenn Spitzenkräfte aus Ost abwandern und sozial Schwache mal umgekehrt hinüberspazieren, um mit immer billiger werdenden Ostmark „auf den Putz zu hauen“? Bärbel Bohley vom „Neuen Forum“ lapidar: „Es fehlt hat an politischen Persönlichkeiten auf allen Seiten.“

Die Freiheit, die unerwartet aus dem Osten kam, machte die westlichen Freiheitsbesitzer stumm und veranlaßte die kommunistischen Funktionäre als Verlierer zum Hissen der weißen Flagge. Dazwischen Menschen, die nichts wissen und auch nicht fragen, wie es weitergehen soll mit der gespielten Revolution, diesem „größten Volksfest Berlins“ - so Walter Momper. Kommt nach dem Rausch der Kater?

Vorläufig feiert man und lacht. Selbst das „Neue Deutschland“ ist für einen Scherz zu haben. Es berichtigt einen Bericht über eine angebliche Entführung eines DDR-Bürgers in die Bundesrepublik, die im Sommer passiert spin soll.

Unter der Überschrift „Ich habe erlebt, wie BRD-Bürger gemacht werden“ erschien im SED-Zentralorgan am 21. September ein Beitrag, in dem allen Ernstes behauptet wurde, ein Ostberliner Mitropa-Koch sei in Budapest entführt worden. Von westdeutschen Schlepperringen. Man habe ihm „offensichtlich ein Betäubungsmittel verabreicht“. Und als er wieder aufgewacht sei, habe ihm ein Mann gesagt, er solle keine Angst haben, er befinde sich „in der Freiheit, auf dem Weg in die Bundesrepublik Deutschland“.

Nun, nach der „Wende“ schreibt das „Neue Deutschland“, dieser Beitrag habe bei den Lesern eine „nachhaltig kritische Reaktion ausgelöst“. Wie kaum anders zu erwarten, aber erstmals eingestanden, erklärt nun das Blatt, die Redaktion habe zahlreiche Zuschriften erhalten, in denen die Darstellung bezweifelt worden sei. „Wir müssen diese Kritik mit dem heutigen Kenntnisstand akzeptieren und bedauern deshalb die Veröffentlichung.“ So einfach geht das heute.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung