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Die Rhythmen wiederfinden

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Die folgenden Überlegungen bewegt vor allem das gestörte Ver­hältnis zu verschiedenerlei Rhyth­men (und vermutlich zum Rhyth­mus überhaupt), das für die Moder­ne charakteristisch ist. Eine Rhyth­musstörung kann nur verstanden werden, wenn ein gewisses Ver­ständnis von ungestörtem Rhyth­mus gegeben ist.

Alles hat seine Stunde, sagt der Prediger. Der Sinn für die „rechte Stunde" ist für rhythmisches Ver­halten unerläßlich, denn zum Rhythmus gehört die Bindung des Geschehens an seine rechte Zeit. Ein Beispiel: Im Verlauf eines Tan­zes wäre jetzt die Zeit gekommen auf den Boden zu stampfen, aber einer der Tänzer kann den Rhyth­mus nicht halten. Er hat zu spät mit seinem Schritt begonnen und hinkt nun mit dem Stampfen hinterher. Nun will er natürlich, daß ihm das beim nächsten Mal nicht mehr ge­schieht. Er konzentriert sich im voraus auf den Stampfer, dadurch ist er bei den gegenwärtigen Schrit­ten nicht ganz bei der Sache und wenn dann der Stampfer kommt, fällt er zu gewollt, überbetont und eckig aus und also wieder nicht im Rhythmus schwingend. Man sieht daran, daß der Rhythmus als Tref­fen der rechten Zeit nicht willent­lich machbar ist. Rhythmen macht man nicht, man findet sie, indem man in sie hineinfindet. Dazu muß man sich gelassen dem Leib anver­trauen und ihn sich auf den Gang der Geschehnisse einspielen lassen.

Ein weiteres Charakteristikum des Rhythmus ist seine Pulsation. Anders als das chronologische Metrum, das eine Wiederholung quantitativ identischer Zeitab­schnitte anzeigt (das Ticken einer Uhr), hat der Rhythmus den Cha­rakter des Schwingenden, Atmen­den. Der Grund dafür liegt darin, daß er sich als Spannungseinheit von Auseinanderliegendem, schein­bar Gegensätzlichem zeitigt. Ko-helet deutet das an, indem er bei der Aufzählung dessen, was jeweils seine Stunde hat, paarweise Zu­sammengehöriges nennt: Gebären und Sterben, Pflanzen und Ernten, Lachen und Weinen...

Dem allem seine Zeit geben und also in seinen Rhythmus hineinfin­den, heißt mehr als nur die Abfolge dieser Paare als bloßes Nacheinan­der konstatieren. Es gilt zu verste­hen, daß das eine nicht abgelöst vom anderen besteht, sondern die beiden so zusammengehören, daß sie sich wechselseitig hervorgehen lassen. Zur Pulsation wird die Bewegung, wenn das gerade Unbe­tonte im Betonten, die abwesende Phase in der anwesenden belebend gegenwärtig bleibt. Ein gutes Bei­spiel dafür ist das Gespräch, in dem das schweigende Horchen in der Rede und die Rede im schweigen­den Hören abwechselt.

Die fortschreitende Rationalisie­rung der ökonomischen und sozia­len Verhältnisse, durch die das Projekt Moderne im 19. und 20. Jahrhundert gekennzeichnet ist, beruht unter anderem auf einer Ausblendung der als Rhythmus erfahrenen Zeit. Vorherrschend wird die Zeit, die wir auf unseren Uhren ablesen können. Nach dem Motto „Zeit ist Geld" kann diese Zeit als Quantum, das einen gewis­sen Tauschwert hat, betrachtet werden. Zur Steigerung der Profit­raten und grenzenlosen Mobilisie­rung aller Produktivkräfte ist es nötig, möglichst willkürlich über die vorhandenen Zeitquanten ver­fügen zu können. Rhythmen, die dem im Wege stehen, werden abge­schafft oder übergangen.

Eine schon klassisch zu nennen­de Analyse dieses Vorgangs gibt Georg Simmel in seiner „Philoso­phie des Geldes" aus dem Jahre 1900. Simmel beschreibt die alltäg­lichen Lebensbedingungen in den Großstädten einer Industriegesell­schaft. Er zeigt, wie überkommene Rhythmen durch die Situation ten­denziell alles zu jeder Zeit kaufen zu können, aufgelöst werden. Das „Alles zu jeder Zeit" gegen einen abstrakten Tauschwert ist ein völ­liger Widerspruch zum „Alles zu seiner Zeit" des Rhythmus, wobei in der berechenbaren Zeit der pul­sierende Charakter des Rhythmus einem linearen qualitätslosen Zeit­fluß mit zufälligen Unterteilungen weicht.

Simmel erläutert das etwa an­hand der Rhythmen der Ernährung. Die Nahrungsmittelversorgung ist immer weniger von der Erntesai­son oder periodischen Märkten ab­hängig. Auf unseren ständigen Märkten bekommt man unabhän­gig von der Jahreszeit Obst und Gemüse aus aller Welt, während früher die Nahrungsmittel ihre spe­zifische Zeit hatten und jede Zeit daher ihren besonderen Ge­schmack.

Gravierender noch schneidet die Arhythmie der Arbeitsverhältnisse ins Leben der Bewohner der Mo­derne ein. Schon Simmel sieht, daß die Arbeitsabläufe in vorindustriel­ler Zeit besonders beim Zusammen­arbeiten und durch die häufig an­zutreffende Gesangsbegleitung rhythmisches Gepräge besaßen, das sie in der Folge verloren. Nicht mehr die leiblichen Rhythmen des Arbei­tenden geben nun die Zeit an, son­dern die Arbeitszeit wird nach den maschinellen Abläufen und den Anforderungen extremer Arbeits­teilung organisiert.

Das harmonische Zusammenspiel von Spannung und Lösung - das zur anmutigen rhythmischen Be­wegung im Tanz gehört - findet im Arbeitsvorgang keine Berücksich­tigung mehr. Leistungssteigerung in Dauerspannung ist die Norm. Entspannung gilt als das Negative, das man braucht, wenn die Arbeits­kapazität erschöpft ist, um nach­her wieder besser arbeiten zu kön­nen. Ebenso gilt die Nacht nur als Mangel an Tag, dem man durch Verbesserung der künstlichen Be­leuchtung abhelfen kann. Der Abend und die Nacht werden nicht mehr als besinnlicher Gegenpol zum Tag verstanden, sondern mit Zer­streuungen und dem Konsum des­sen, was in der Arbeitszeit produ­ziert wurde, vertan. Wachen und Schlafen, Betätigungslust und Ab-gespanntheit wechseln nicht mehr rhythmisch. Unter solchen Lebens­bedingungen ist es nicht verwun­derlich, wenn es vermehrt zu Stö­rungen der besonders rhythmus­sensiblen Bereiche Herz und Kreis-lauf beziehungsweise Atmung kommt. Wach und müde zugleich zu sein, hochkonzentriert und doch irgendwie zerstreut und danebenstehend, das dürfte zu einer immer häufiger anzutreffenden Grundbe­findlichkeit werden.

Obwohl besonders während des ersten Drittels unseres Jahrhun­derts in Randbereichen wie dem modernen Tanz, der Atemtherapie und der rhythmischen Erziehung eine Neuentdeckung des Rhythmus stattfand, ist seine Bedeutung für das menschliche Leben und die wachsende Arhythmie unserer Gesellschaft noch nicht ins allge­meine Bewußtsein eingedrungen, geschweige denn, daß sich eine Änderung des Umgangs mit der Zeit abzeichnen würde.

Wie lange muß der Leidens- und Kostendruck durch Zivilisations­krankheiten und ökologische Ka­tastrophen, bei denen die Mißach­tung natürlicher Rhythmen ein oft unterschätzter Faktor ist, noch anwachsen?

Der Autor ist Assistent am Institut für Philo­sophie der Wiener Theologischen Fakultät.

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