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Die Rolle der Religion nach der Aufklärung

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Nicht die Religion hat sich als Illusion erwiesen, sondern die Theorie vom Verschwinden der Religion als Folge der Aufklärung, meint der Zürcher Philosoph Hermann Lübbe.

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Nicht die Religion hat sich als Illusion erwiesen, sondern die Theorie vom Verschwinden der Religion als Folge der Aufklärung, meint der Zürcher Philosoph Hermann Lübbe.

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Vierfach hat die Aufklärung die kulturelle Stellung der Religion in modernen Gesellschaften verändert. Erstens unterliegt in aufgeklärten Gesellschaften die Wissenschaftspraxis keinerlei religiös , bestimmter Weltbildkontrolle mehr. Die Unabhängigkeit der Wissenschaftspraxis von religiös formierten Weltbildvorgaben ist uns inzwischen selbstverständlich geworden, und fundamentalistischer Eifer, der sich hier und da noch über Wirklichkeitsannahmen der Wissenschaftler empört, erscheint uns als ein kultur-evolutionäres Relikt. Entsprechend hat auch das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit aktuelle Bedeutung kaum noch als Abwehrrecht gegenüber den Ansprüchen religiös motivierter Weltbildkontrolleure.

In unserem Jahrhundert sind Bedrohungen der Wissenschafts-

freiheit nicht mehr von den Religionen und den sie begünstigenden politischen Institutionen, vielmehr in erster Linie von den großen, machthabenden Hochideologien ausgegangen. Diese Hochideologien sind in ihrem totalitären Geltungsanspruch bekanntlich nicht nur für die Wissenschaft, sondern ebenso auch für die Religionen bedrohlich geworden, so daß, insoweit, die Wissenschaften einerseits und die Religionen und Konfessionen andererseits inzwischen durch das gemeinsame Interesse an rechtlich gesicherter kultureller Freiheit gegenüber ideologischen Totalitarismen verbunden sind.

Freilich: Wissenschaftsfreiheit als Emanzipation der Wissenschaftspraxis aus religiös motivierter Weltbildkontrolle führt schließlich zu vollständiger religiöser Indifferenz wissenschaftli-, chen Erkenntnisfortschritts. Wir befinden uns, nach der Aufklärung, in einer kulturellen Situation, in der sich gar nicht mehr sagen läßt, welchen Unterschied es für unsere religiöse Lebensorientierung eigentlich ausmacht, ob für unsere Verständigung über das, was der Fall ist, noch der gestrige Forschungsstand einschlägiger Wissenschaften maßgebend ist oder bereits ein anderer.

Ob der Kosmos, in den wir von unserem irdischen Standort aus mit den modernen radioastronomischen Instrumenten eine beachtliche Strecke weit hineinzuschauen vermögen, seine biblischen guten 5000 Jahre oder fünf Milliarden Jahre alt ist, oder ob seit dem großen Urknall nach neuesten Abschätzungen gar 10 hoch 18 Sekunden vergangen sein mögen — das sind Erkenntnisal

ternativen, deren Dramatik für Teilnehmer an Forschungsprozessen gewaltig ist, die aber in religiöser Hinsicht vollendet belanglos geworden sind.

Zweitens entkoppelt der Aufklärungsprozeß religiöses Bekenntnis und Bürgerrechte. Das muß nicht Trennung von Staat und Kirche bedeuten. Aber es bedeutet in jedem Fall verfassungsrechtlich gewährleistete Freiheit der Religion. Dissidenten, Apostaten, ja Atheisten, die noch im Zeitalter der Frühaufklärung bestenfalls Toleranz genossen, werden mit der Verkündigung der Religionsfreiheit in ihrer Randgruppenkulturexistenz in den Status von Inhabern subjektiver, das heißt einklagbarer Rechte versetzt. Nicht, daß unter Bedingungen dieser verfassungspolitischen Konsequenzen religiöser Aufklärung der Staat eo ipso der religiösen Kultur gegenüber sich desinteressiert und indifferent zeigte; aber die Gewährleistung der Unabhängigkeit der Bürgerrechte

von Religion und Konfession ist ihm zugemutet und abverlangt.

Drittens setzt die Aufklärung Säkularisierungsprozesse frei. In Säkularisierungsprozessen schwindet die Bedeutung religiöser Institutionen als Instanzen sozialer Kontrolle. Diese Prozesse verändern unsere Alltagskultur. Säkularisierungsvorgänge laufen ab, wenn der Unterschied, den es macht, ob man einer Kirche angehört oder ihr nicht angehört, schließlich auch auf Vereins-, Berufs- oder Parteikarrieren sich schlechterdings nicht mehr auswirkt.

Das religiöse Verstummen von Traueranzeigen, der Verlust öffentlich manifester Kontur staatlich sanktionierter kirchlicher Feiertage, die mobilitätsbedingt zunehmende Indifferenz der Partnerwahl gegenüber Konfessionsunterschieden, die Bekenntnisunschärfe der Sonntagsworte von Pfarrern im Fernsehen, die progressive Unscheu der Sight-

seeing-Touristen im Dom, die curriculare Entkanonisierung von Bibel- und Gesangbuchkenntnissen — das sind Indizien für Säkularisierungsvorgänge der hier gemeinten Art. Einige dieser Indizien verweisen auf gewichtige kulturelle Vorgänge. Andere scheinen eher von gleichgültiger Art zu sein.

So oder so summieren sie sich zu Anzeichen eines Vorgangs von großer kultureller und sozialer Mächtigkeit. Anders als der rechtspolitische Vorgang, der in der verfassungsmäßigen Institutionalisierung der Religionsfreiheit endet, läßt sich ein Ende, an welchem der Säkularisierungsprozeß als abgeschlossen betrachtet werden könnte, gar nicht angeben …

Viertens ist die Kultur nach der Aufklärung eine sich selbst uneingeschränkt historisierende Kultur. Dieser spezifisch moderne Historismus erstreckt sich, selbstverständlich, nicht allein auf Religionen und Konfessionen. Die Wissenschaften und die Technik, die Kunst und das Recht, Moral und Alltagskultur sind im modernen Lebenszusammenhaqg auf sich selbst in der Brechung des historischen Bewußtseins bezogen. Mit der Ausbildung eines historischen Bewußtseins reagieren wir auf das objektive Faktum einer fortschreitenden Dynamisierung zivilisatorischer Evolution.

Mit der Dynamik der modernen Zivilisation nimmt die Menge zivilisatorischer Innovationen pro Zeiteinheit zu. Damit erhöht sich zugleich die Geschwindigkeit, mit der Elemente unserer jeweiligen Gegenwartszivilisation veralten, und die historische Ungleichzeitigkeit dessen, was im chronologi-

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