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Die Rotte Korahs.

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In seinem vierten Buch, in den Kapiteln 16 und 17, beschreibt Moses jene gefährliche Krise, die sein Volk in der Zeit zwischen dem Empfang der Zehn Gebote und der Bereitstellung zur Eroberung des Gelobten Landes bedrohte: die Empörung Korahs, Dathans und Abirams.

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In seinem vierten Buch, in den Kapiteln 16 und 17, beschreibt Moses jene gefährliche Krise, die sein Volk in der Zeit zwischen dem Empfang der Zehn Gebote und der Bereitstellung zur Eroberung des Gelobten Landes bedrohte: die Empörung Korahs, Dathans und Abirams.

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Die Rotte Korahs, ihre Ziele, Methoden und Typen sind eine Erscheinung, die nicht bloß in der biblischen Geschichte auftrat. Sie wird sich immer aufs neue wiederholen, solange es Menschen geben wird. In dem gleichnamigen Roman Hermann Bahrs analysiert der Zionist Doktor Beer dieses Phänomen so:

Eine Rotte der Anmaßenden, der Höhnenden, der ewig Mißvergnügten, der Gleichmacher, der Ehrfurchtslosen, die an keinen Unterschied der Menschen glauben. Moses bekam es in seinem Fall nicht etwa mit „Leuten aus dem Volke“ zu tun, die auf dem langen Marsch durch die Wüste enttäuscht und aufrührerisch geworden wären; es waren Angehörige einer Elite, Leviten, sozusagen „intellektuelle Kleriker und Klerikale“, die jenes typische J'accuse vortrugen: Warum der Moses? Warum der Aaron? Wieso? Warum gerade er? Warum nicht wir? Und was ist mit dem Land von Milch und Honig? Wo ist es? Was fließt? Nichts fließt.

In einem Beitrag zur Priesterfrage beschrieb anfangs 1970 Otto Mauer die Rotte Korah so: Die Priester wollen nicht mehr die „Untergebenen“ der Hierarchie sein. Die Idee der nur Gott verantwortlichen Autorität gilt nicht mehr. Verlangt wird eine kollegiale Zusammenarbeit nach dem Rätesystem. Eine unkontrollierte Autorität wird nicht mehr respektiert.

Das antiautoritäre Prinzip nach Marx

Die Marx-Renaissance der sechziger Jahre hat noch einmal das antiautoritäre Prinzip hervorgeholt. Dieses, von fortschrittlichen Menschen als ungemein modern angesehene Prinzip, hat viele Generationen geistiger Vorväter. Marx übernahm es von den Atheisten des 18. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu einem bläßlichen Deismus gewisser feudaler und bürgerlicher Aufklärer stemmte sich die atheistische Richtung, indem sie „Gott entthronte“, nicht nur gegen das fürstliche Got-tesgnadentum, sondern gegen jede

Autorität. Als sich die Revolution nicht nur gegen die aristokratische Eigentumsordnung wandte, sondern auch gegen die der neureichen Bürger, zerbrach in der Revolution von 1789 zum ersten Mal die Allianz der liberalen Bürger mit den Revolutionären aus Prinzip und von Berufs wegen.

Heute ist es nicht andei's. In der BRD zerbricht angesichts der permanenten Aggressionen der Linken und insbesondere jener der linken Linken auf die bestehende Eigentumsordnung die siegreiche Linksallianz von gestern, die den „CDU-Staat“ aus der Stellung schoß. Die erschreckten Liberalen sehen sich geprellt. Sie wollten zusammen mit der alten und neuen Linken Opposition gegen das „herrschende System der Schwarzen“ machen; aber die linke Linke, die bereits die Hochschulen beherrscht, opponiert gegen das Ganze, auch gegen den liberalen Weggenossen von gestern.

Wie marxistisch auch der angeblich „entideologisierte“ Sozialismus von heute nach wie vor ist, ergibt sich einerseits aus seinem nach klassenkämpferischen Motiven unternommenen Versuch, Autorität bei der von Sozialisten gesteuerten Gemeinschaft des Kollektivs anzuhäufen und anderseits bisherige elterliche, politische, moralische, wirtschaftliche usw. Autorität zu diskriminieren und zu beseitigen. Zur Erreichung dieses Zieles gibt es sozialistische Programme zur Einführung anderer straf- und zivilrechtlicher Vorschriften; Reformen der Familie unter Beseitigung des „rechtswidrigen

Sexualmonopols der Ehe“; Anbahnung eines „familienfernen“ Erzie-hungs- und Bildungswesens; Reformen der Demokratie unter Ausschaltung angeblich nicht mehr repräsentativer Interessenvertretungen; Demontage der „bürgerlichen“ Moral; Bündnisse auf Zeit mit der APO, etwa zu „antimilitaristischen“ Absichten; Manipulationen mit dem Eigentum von Fall zu Fall usw. usw. Summa summarum: Es handelt sich nicht — wie behauptet — um Reformen gemäß einer „ideologiefreien

Sachgerechtigkeit“. Es geht um die Institutionalisierung sozialistischer Weltanschauung. In Verfolg letzterer Absichten spielt das Urteil Marx' und Engels' eine tragende Rolle: Alle religiösen, moralischen und intellektuellen Autoritäten der Vergangenheit waren falsch, unmoralisch, ausbeuterisch. Maßgebendes Kriterium des Fortschritts ist das vom Sozialismus aufgezeigte. Alles andere ist reaktionär.

Nichtmarxisten im Nachholunterricht

Allein und auf sich angewiesen, hätte der Marxismus, erschüttert wie seine Lehre nach sozialdemokratischen und kommunistischen Experimenten ist, diese Neuorientierung der öffentlichen Meinung nie geschafft. Sem stärkster Bundesgenosse war im letzten Jahrzehnt wieder einmal das eilfertige Proselytentum bürgerlicher, liberaler, christlicher, nationaler usw Intellektueller, die sich unter dem Eindruck der Marx-Renaissance der sechziger Jahre dem Nachholunterricht in Marxismus stellten; die ihre bisherigen Denkvorstellungen als bloße „antimarxistische Schlagworte, Meinungen und Vorurteile“ ablegten; die umdenken und neudenken lernten, um nachher die „Neue Sprache“ der Linken auf Lehrkanzeln und Kanzeln, Parlamentstribünen und Wahlversammlungen zu gebrauchen.

Max Horkheimer, zusammen mit Marcuse und Mitscherlich Präzep-tor der neuen linken Linken hat den Vorgang des Transfers der Autorität nach links hin verkündet: Die (bisherigen) Machthaber haben aufgehört, als Repräsentanten einer weltlichen und himmlischen Autorität zu handeln. Diese scheinbar autoritätskritische und autoritätsverneinende Rede negiert nicht das Autoritätsprinzip, negiert nur Autorität, die nicht von der Linken legitimiert wird. An sich ist die Linke, vor allem die neue linke Linke, nach wie vor autoritätsgläubig, so zum Beispiel angesichts der „wissenschaftlichen Autorität“ ihrer Ideologen Horkheimer, Marcuse, Mitscherlich, Adorno, von Bloch und Lukäcs gar nicht zu reden. Sie ist patriarchalisch und gar nicht vaterlos erzogen von den greisen Vorvätern der Revolution 1917/18, die mit Hilfe ihrer Enkel doch noch ihre Revolution gewinnen möchten. Sie ist elitär und nicht egalitär in Struktur und Funktion, indem sie das „bolschewikische Prinzip“ handhabt, das heißt: eine elitäre Mini-Minorität der „Revolutionäre“ maßt sich an, die wahre Repräsentanz des Ganzen zu sein.

Indern jetzt die Linke mit den gängigen Schlagworten antiautoritär, vaterlos, egalitär die Standpunkte ihrer Gegner und das ganze System des Pluralismus umschmeißen möchte, setzt sie zugleich ihre autoritären, elitären und am Vater-Image orientierten Prinzipien in Funktion.

Die Rotte der Theologen

Wer bei Moses, Numeri, Kapitel 18 und 17 nachliest, stößt an dieser Fundstelle auf jene intellektuelle Arroganz, die heute gewisse Theologen zum soundsovielten Mal reproduzieren, indem sie Intellektualismus anstatt Gläubigkeit verbreiten. Hier ist nicht von eher bescheidenen Kapazitäten wie Adolf Holl (Wien) die Rede, sondern zum Beispiel von Johannes Neumann, der das Verständnis der Kurie für Autorität einfach als „ständisch, absolutistisch und patriarchalisch“ abtun möchte; von Hans Küng, der schlankerhand die „hypertrophe Autoritätskultur“ als Hauptursache der „Beschädigung des Glaubens“ — wie er sie sieht — eruierte.

Diese und andere „theologische“ Denkweisen zur Beseitigung einer Mentalität in der Kirche, die demnach „dem Menschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fremd ist“, legten der Kirche in weiterer Konsequenz die Rezeption eines bestimmten Demokratiemodells nahe. Ein Modell, das vor 250 Jahren zur Steuerung von Verhältnissen konstruiert wurde, die es seit der industriellen Revolution und dem Entstehen der Massengesellschaft vielfach nicht mehr gibt; das die unbedingte Ideologiegläubigkeit der Aufklärer und Revolutionäre des 18. Jahrhunderts voraussetzt und das den Kriterien der mathematischen Wissenschaften von heute in vielen Punkten nicht standhält; das von ehrlichen Demokraten als höchst reformbedürftig angesehen wird.

Indem die einen Theologen mit einer kranken Demokratie die nach ihrer Diagnose kranke Kirche kurieren möchten, ziehen die anderen im Geiste Jean Paul Sartres aus bestehenden Institutionen und Normen der Kirche aus. Vielfach wird — ganz im Gegensatz zur modernen Wissenschaft — verkannt, daß die Menschen auf die Dauer nichts gemeinsam tun können, ohne es nach vorgegebenen Regeln zu tun. Daß diese abgehobenen Regeln gegenseitigen Verhaltens einen Grundriß dauernder Einrichtungen, also Institutionen, ergeben. Daß gelehrte Verhaltensmuster den Menschen von quälendem Affektaufwand befreien und sein konkretes Handeln zeitneutral gültig machen. Für die Kirche sind das Einsichten, die ihr nicht erst die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts eingab. Man hat aber den Eindruck, als fände an verschiedenen theologischen Fakultäten die Verkündung der diesbezüglichen Lehre gar nicht mehr statt oder als seien da und dort Lehrer am Werk, die ihren katholischen Glauben schon verloren haben.

Bekanntlich wußte sich Jehova angesichts des Tuns der Rotte Korahs nicht anders zu helfen, als daß er den Schlund der Erde auftat, die sie verschlang. In die Sprache des 20. Jahrhunderts übersetzt heißt das: jede Revolution verschlingt zuletzt ihre eigenen Kinder. Das aber ist eine für die übrigen Beteiligten kostspielige Mahlzeit. Denn: wie sieht die Welt aus, wenn sich die furchtbare Gewalt des Aufruhrs ausgetobt hat? Chateaubriand hat dieses „nachher“ im Rückblick auf die Revolution von 1789 beschrieben, Pasternak nach der von 1917:

Es schien Chateaubriand, als habe eine Feuersbrunst in den Dörfern gewütet; sie waren armselig und halb zerstört; überall Schmutz, Staub, Mist, Trümmer, Schutt. Die Mauern waren beschmiert mit der Inschrift aus 1789: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder den Tod. Das Wort Tod hatte man nachher zu übertünchen versucht, aber es schimmerte immer wieder durch. Immer wieder.

Und Doktor Schiwago sah bei seiner Rückkehr nach Moskau die Hälfte aller Dörfer, die er durchwanderte, verwüstet, wie nach dem Durchzug feindlicher Truppen. Die Felder lagen verlassen da. Die Ernte war nicht eingebracht worden. Das waren die Folgen des Aufruhrs.

Im übertragenen Sinne ist das auch das Bild der Kirche in vielen Regionen ihrer heutigen Präsenz. Zumal dort, wo die Rotte Korahs durchzog. Aber die Kirche lebt, sie muß ihre Felder bestellen und ihre Ernte einbringen. Die Alternative „... oder den Tod“ gilt für sie nicht. Zerstörungen, verlassene Baustellen mit halb demolierten oder halbfertigen Gebäuden müssen aufs neue in Arbeit genommen werden. Jetzt, da der „totalen Illusionslosigkeit“, wie sie die Rotte Korahs zu verbreiten suchte, die Desillusionierung folgt, ist produzieren besser als diskutieren: Engagement statt Exodus. Institutionalisierung statt Formlosigkeit. Auc-toritas von Ewigkeit her statt Fremdautorität.

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