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Die Rückkehr

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Wir denken nach, aber unser Gehirn reicht nicht aus, um den Geheimnissen auf den Grund zu kommen, um die Rätsel zu lösen, wir werden wahrscheinlich niemals erfahren, woher das erste Samenkorn gekommen ist, das die erste Pflanze wachsen ließ, wir wissen, wie unsere Zellen funktionieren, wir kennen die chemischen und physikalischen Funktionen unseres Gehirns, oder wir glauben sie jedenfalls zu kennen, und doch können wir uns im letz-

ten nicht erklären, wie und wodurch in unseren Gehirnen Haß, Neid, Zuneigung oder Liebe entstehen.

Wir kommen den Rätseln nur auf die Spur, aber wenn wir diese Spur weiterverfolgen, führt sie ins Leere oder an eine Wand, die sich als unübersteigbar erweist, oder in einen Nebel, in dem wir in die Irre gehen. Vielleicht werden wir eines Tages wissen, aber dann werden wir auch nicht glücklicher sein, als wir es jetzt sind, vielleicht werden wir uns vernichtet haben, ehe wir die Rätsel völlig gelöst haben, vielleicht werden wir, wenn wir uns vernichten, knapp vor der Lösung der Rätsel gestanden sein, vielleicht wird das so sein müssen, weil wir die letzten der Rätsel nicht lösen dürfen.

Die mit raschen Schritten über das Watt gehende, jetzt beinahe laufende Irene würde alles, was sich damals und auch während des folgenden Jahres ereignet hat, gerne aus ihrer Erinnerung tilgen, weiß aber, daß Vergessen, in diesem Fall jedenfalls, nicht möglich ist, alles ist ihr, wie sie jetzt zu ih-

rem Bedauern feststellen muß, deutlich in Erinnerung geblieben.

Sie weiß noch, wann und in welcher Stadt sie Robnitzki wieder getroffen hat, sie erinnert sich an Einzelheiten ihres Beisammenseins, an den Wortlaut von Gesprächen, in denen meistens von ihren Arbeiten, von Kunst im allgemeinen und von Fotografie im besonderen die Rede war, an Augenblicke der Nähe und beinahe vollkommener Übereinstimmung, in denen sie sich auf bisher nicht gekannte Weise verstanden fühlte und in denen sie beinahe glücklich war. Sie erinnert sich aber auch an das Gefühl der Zerrissenheit und der Schuld, das sie erfaßte, wenn sie wieder im Zug oder in ihrem Wagen saß und nach Hause zurück zu Erich und den Kindern fuhr. Sie denkt an ihren immer wieder gefaßten, aber niemals ausgeführten Vorsatz, mit Erich zu sprechen, ihm eine Trennung vorzuschlagen, erinnert sich daran, daß Robnitzki sie einmal danach gefragt hat, an seine Verwunderung, an den von ihm damals ausgesprochenen Satz: Du liebst ihn ja! Sie denkt daran, daß dieser Satz es eigentlich gewesen ist, der sie schließlich zu dem festen Entschluß gebracht hat, den für sie unhaltbaren Zustand zu beenden und Erich zu verlassen.

Das Bild, das jetzt auf Irene zukommt, stürzt sie in eine Verwirrung, auf die sie, nach so vielen seither vergangenen Jahren, nicht mehr gefaßt gewesen ist und mit der sie nicht mehr gerechnet hat. Sie empfindet wieder, was sie da-

mals, Monate später, empfunden hat, es ist eine Mischung aus Enttäuschung, Schmerz und ohnmächtigem Zorn, sie tappt jetzt wie blind über den geriffelten Sand und sieht nichts mehr von der sie umgebenden Landschaft.

Sie sieht vielmehr sich selbst auf dem Bahnhof einer ihr fremden Stadt einen Zug verlassen, einen Koffer in der Hand, sieht sich kurz darauf in einem Hotelzimmer, auf einem Bett sitzend, wartend, sieht sich durch die Straßen der Stadt laufend, wieder in ihr Zimmer zurückkehren, zwei Tage später ihre Sachen wieder in den Koffer packen, nach Hause fahren.

Sie hatte längere Zeit nichts mehr von Robnitzki gehört, er hatte nicht geschrieben, aber Zeit und Ort ihrer Zusammenkunft waren von ihnen vereinbart worden. Eine Ausstellung sollte stattfinden, sie waren beide eingeladen worden, Bilder zu schicken, sie wollten einander bei dieser Gelegenheit wiedersehen, Irene hatte ihre Bilder geschickt, sie war hingefahren. Sie hatte Robnitzki sagen wollen, daß sie jetzt entschlossen sei, sich von Erich zu trennen, und daß sie versuchen wollte, allein zu leben. Er war nicht gekommen, er hatte keine Bilder geschickt, die Veranstalter der Ausstellung hatten keine Nachricht von ihm, sie konnten ihr keine Auskunft geben.

Irene weinte vor Enttäuschung und Kränkung, aber auch vor Zorn in das Kopfkissen ihres Ho-

telzimmerbetts. Sie hatte verlassen wollen und war nun selbst verlassen worden, sie hatte betrogen und war nun selbst betrogen, eine betrogene Betrügerin, eine verlassene Geliebte, es war eine Situation, die der grotesken Komik nicht entbehrte, das aus dieser Situation resultierende Gefühl stürzte sie in einen Zustand völliger Hilflosigkeit. Sie hatte allen Mut verloren, wagte es nun nicht mehr, an die Realisation ihres Vorsatzes zu denken, bestieg einen Zug und fuhr zu Erich und zu ihren Kindern zurück.

Der gelbe Streifen am Rande des Watts hat sich wieder in einzeln stehende Strandkörbe aufgelöst, hin und her gehende oder im Windschatten der Körbe in der Sonne liegende Leute sind zu erkennen, spielende Kinder laufen auf dem Strandstreifen und im Watt hin und her, Mütter mit nach Muscheln suchenden Kindern kommen Irene entgegen. Sie hat die Strandzone erreicht, hat aber keinen Appetit mehr auf Fisch mit Kartoffelsalat, möchte jetzt eigentlich nicht zu Erich hingehen, geht aber dann doch auf die Stelle zu, wo sie unter all den gelb gestrichenen Strandkörben den von Erich gemieteten vermutet, findet ihn nach einigem Suchen.

Erich ist aufgewacht und hat seinen Fisch gegessen, ihr Päckchen in ein Badetuch eingeschlagen, um es noch einigermaßen warm zu halten, er winkt ihr zu, als er sie erblickt. Irene hebt die Hand und winkt zurück.

War es schön draußen? fragt Erich.

Aus der Erzählung „Fremder Strand", die im Verlag Styria, Graz, im kommenden Herbst erscheinen wird.

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