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Die Rückkehr ins andere Schweigen

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Der in den USA lebende österreichische Erzähler, dessen neuer Prosatext hier abgedruckt wird, hat soeben eine Neufassung seines seinerzeit vielbeachteten Romans „Pest in Siena“ veröffentlicht (Ullstein-Verlag, Berlin).

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Der in den USA lebende österreichische Erzähler, dessen neuer Prosatext hier abgedruckt wird, hat soeben eine Neufassung seines seinerzeit vielbeachteten Romans „Pest in Siena“ veröffentlicht (Ullstein-Verlag, Berlin).

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Er ist zurückgekommen.

Neunhundertvierzig Kilometer, die letzten der langen Reise, hat er in einem Mietwagen in elf Stunden zurückgelegt, hinter sich gebracht, wie er sagt. Um zwei Uhr nachmittags, nach einem enttäuschenden Mittagessen, einer nicht durchgebratenen und dazu noch alten Forelle, vor der ihn Ekel befiel und die ihm bezeichnend schien, war er am Samstag aus Bruxelles abgereist. Fremde Wörter nie eindeutschen! Die wenigen Kilometer Stadtfahrt bis zur großen Nationalstraße nennt er die übelsten der Reise. Er erinnert sich an die kleinen Steine, Kopfsteinpflaster, das heute noch in europäischen Städten zu finden sei. Da gleich lieber die tückischen Schlaglöcher New Yorks.

Kopfsteinpflaster nennt er Grund genug, viele Städte, die eigentlich schön sind, nicht länger zu befahren. Das Stoßen und Schütteln, das auch im besten Wagen, bei höchster Großzügigkeit unerträglich wird, kann die Liebe zur liebenswertesten Stadt durcheinanderschütteln.

Nach einer elfstündigen Fahrt unter gemeinsten Bedingungen, von Bruxelles bis Salzburg habe es ununterbrochen geregnet, gestürmt, traf er schließlich um ein Uhr morgens in seiner Zielstadt ein. Er hätte seinem Fahrzeug außer den Minuten des Tankauffül- lens .und einer halbstündigen Pause, die er sich in einem Rasthaus — die schlechten Gerichte, das schlechte Publikum — bei Karlsruhe gönnte, nichts geschenkt. Der Mietwagen habe viel leisten müssen, aber kein Fahrzeug verdiene Rücksicht. Wer die Technik zum Partner erhebt, tötet auch schon den Menschen.

Der Wunsch, ohne Verzögerung nach Österreich zurückzukehren, hätte ihn zu dieser lebensgefährlichen Reise gezwungen. Nach jahrelangen Abwesenheiten, die manchen Frühling und manchen Sommer, unwiederbringliche Möglichkeiten, vernichtet hätten, wollte er, unaufschiebbar, zurück.

Er verbindet mit der Ankunft kei-’ ne Pläne. Die Namen der ersehntesten Städte und Landschaften, deren Klang wir alle kennen, und die er mir trotzdem nur ängstlich anvertraute, hätten ihn ausgelaugt. Plötzlich sei seine Welt auf ein Mindestmaß reduziert, auf dieses Österreich …

Obwohl kein Österreicher von Geburt, habe man ihm eine österreichische Kultur über den Kopf gestülpt. An jenem Oktoberwochenende traf er in Salzburg um ein Uhr morgens ein und mietete vorerst ein Zimmer in einem Hotel. Er habe sich seiner Müdigkeit aufrichtig geschämt. Nur in Andeutungen redet er über seine jahrelange Abwesenheit. Jahre seien auf jeden Fall grausamer als Ewigkeit, dieses Dreisilbenwort.

Straßenbilder, die Vorstellung kurvenreicher Straßen, die noch Stunden nach seiner Ankunft, bis in den zerrissenen Schlaf hinein, seine überforderten Nerven nicht freigaben. Was es heißt, elf Stunden lang gegen den Sturm zu fahren, und dies nach einem transatlantischen Flug, wisse nicht jeder. Dieser Sturm habe ihn an Brugge erinnert, aber für Brugge sei keine Zeit. Trotzdem verfällt er in dunkle Beschreibungen dieser kränklichsten, zartesten aller Städte, wie er sagt. Brugge, dessen Zauber Belgien nicht verdient. Er stammelt von einem Treffen, einer menschlichen Begegnung. Dann bricht er ab.

Elf Stunden lang die Höchstgeschwindigkeit gegen den Sturm zu fahren, sei kein Spiel, obwohl ein Spiel natürlich mehr sei. Die alte Leier: die Schlechtwetter- fahrt. Eine Geschwindigkeit, die bei 110 km/h sicheres Fahren, bei 115 km/h jedoch im Ansturm der Böen das Abheben von der Straße, lächerlichen Flugwahn, bewirken würde, eine solche Geschwindigkeit auszuspielen, einzuhalten, erfordere ein poetisches Fahrgefühl.

Noch im Einschlafen hätte er über seinen Entfernungsgrößen- wahp, ohne wirkliche Rast, mit seinen übersichtigen, müden Augen, neunhundertvierzig Kilometer gefahren zu sein, den Kopf geschüttelt. Obwohl die Welt unsäglich klein sei, sei sie für ihn unsäglich groß. Größenwahn war diese Fahrt für einen augenschwachen, nervenzerrütteten, übernächtigten Menschen. Es wäre aber, das will er eingestehen, kein in Bruxelles gefaßter Entschluß gewesen, bis nach Salzburg durchzurasen, denn solche Ausdauer hätte er sich in Bruxelles, das durch Häßlichkeit entmutigt, nicht zumuten dürfen. Vielmehr sei er bis Salzburg durchverzweifelt, fuhr er an jeder Möglichkeit des Ra- stens vorbei. Weder in Belgien, noch in Luxembourg, noch in der BRD, um die auf seiner Fahrt durchmessenen Länder zu benennen, gäbe es Hotels, in denen er absteigen möchte. Sie vermieten nur Betten, klagt er, Zimmer mit Betten, Betten mit Zimmer, aber keine Nachtruhe. Um zu schlafen, müsse man sich erschöpfen, müsse man beispielsweise von Bruxelles bis Salzburg durchverzweifeln. Mit Gewalt in die Arme des Schlafes stürzen, anders kein Schlaf, mit Gewalt in die Arme des Todes stürzen, anders kein Tod, sei dieser Satz manchen Menschen Gesetz.

Er bedauert mich, er wisse, daß seine Aussagen blaß bleiben müssen, weil ich an der Reise nicht teilgenommen hätte. Vielleicht sollte ich seine Reise nachvollziehen, nachreisen, aber wollte ich das, müßte ich, er sehe das ein, auch die Vorgeschichte der Reise, die vielen Jahre und die vielen Gedanken, nachvollziehen: nachleben, nachdenken, was er von keinem verlangen dürfe. Dergleichen würde auch mich zum Opfer seiner Perversionen erniedrigen, er sagt: Herbstperversionen, er lächelt: mein Lieblingshaßwort.

Hätten wir einander nie gesehen, klagt er, dann aber fühlt er, wie arm ich wäre ohne ihn.

In Salzburg, in jener Hotelnacht, wäre ihm auch die Ankunft unter den Händen zerbröckelt zu Staub. Wortstaub, wenn es hoch kommt. Er spricht von Schmerzabgründen, schon auf der Hotel- fachschule, die wir gemeinsam besuchten, damals, unter dem Deckmantel Jugend, sprach er davon. Nach dem Essen lernte er meinen Sohn, den Vierzehnjährigen, der durch seinen Internatsaufenthalt in England meinen Gästen und mir fast dauernd entzogen wird, endlich kennen. Er schien die Begegnung sehr ernst zu nehmen, sprach von Bewunderung und Demut, kurz, sein Verhalten verstörte mich. Mein Sohn, der mich, den in jeder Hinsicht unmöglichen Vater, schon mehrmals vom Selbstmord, meiner großen Versuchung, zurückhielt, wurde von dem aus Bruxelles Gekommenen augenblicklich besetzt. Ich spreche nicht gern von den Depressionen, die mich bedrohen, und die jeder Psychiater, wie meine Frau mir täglich versichert, heilen könnte, falls ich Heilung suchte.

Alle Worte des Zurückgekehrten gehörten fortan dem Knaben, meinem Sohn, der, wie mir scheint, diese Worte verstehen konnte, während ich, von meiner stets schweigsamen Frau zu schweigen, mit jedem Satz in immer größere Verständnislosigkeit hineinkatapultiert worden bin.

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