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Die Schlange und das Häschen Europa

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Im Dezember 1973 fiel das Generalkonsulat des Staates Algerien in Marseille einem Attentat zum Opfer. Vier Tote und 22 Verwundete waren die Bilanz dieses Verbrechens. In den ersten Tagen des Jänner 1974 waren der oder die Täter noch nicht entdeckt. Eine obskure rechtsgerichtete Organisation, der Klub „Karl Martell“, rühmte sich, diese Bombe gezündet zu haben. Handelt es sich um eine Tat, begangen aus rassischen Gründen und mit dem Ziel, gegen die Anwesenheit von 750.000 Algeriern in Frankreich zu protestieren? Wollte ein ehemaliger Angehöriger der OAS die eigenen Toten rächen? War es eine Provokation? Was immer die Motive dieses Anschlages waren, das Attentat wurde mit Recht von der gesamten Presse auf das schärfste verurteilt.

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Im Dezember 1973 fiel das Generalkonsulat des Staates Algerien in Marseille einem Attentat zum Opfer. Vier Tote und 22 Verwundete waren die Bilanz dieses Verbrechens. In den ersten Tagen des Jänner 1974 waren der oder die Täter noch nicht entdeckt. Eine obskure rechtsgerichtete Organisation, der Klub „Karl Martell“, rühmte sich, diese Bombe gezündet zu haben. Handelt es sich um eine Tat, begangen aus rassischen Gründen und mit dem Ziel, gegen die Anwesenheit von 750.000 Algeriern in Frankreich zu protestieren? Wollte ein ehemaliger Angehöriger der OAS die eigenen Toten rächen? War es eine Provokation? Was immer die Motive dieses Anschlages waren, das Attentat wurde mit Recht von der gesamten Presse auf das schärfste verurteilt.

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Am 20. Dezember 1973 fiel der Regierungschef des spanischen Königreiches, Admiral Garrero Blanco, einem Bombenattentat zum Opfer. Baskische Nationalisten der ETA erklärten sich für diese — wie sie sagten — „Exekution eines Volksfeindes“ verantwortlich. Diesmal vermißte man in den meinungsbildenden Gazetten der linken Rechtshälfte die entrüsteten Kommentare, die feierlichen Proteste. Im Gegenteil! Des öfteren wurde der Versuch unternommen, die Ermordung des Admirals zu rechtfertigen. Es handle sich eben um eine „faschistische“ Diktatur und die revolutionären Kräfte hätten das Recht, mit allen Mitteln den Kampf um die „Befreiung des Volkes“ zu führen.

Eine Frage sei allerdings gestellt: Welche Unterschiede bestehen zwischen dem Regime General Francos in Madrid und jenem des Obersten Boumedienne in Algier? Beide sind durch einen langen Krieg an die Macht gekommen. Die Legalität General Francos, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet hat, fand bis in unsere Tage keine Unterbrechung. In Algerien dagegen wurde das rechtmäßige Staatsoberhaupt Ben Bella-durch einen Putsch des Obersten Boumedienrie beseitigt. Ben Bella ist bis Ende 1973 offiziell nicht aus der Haft entlassen worden. Ebenfalls ist es nicht gelungen, ihn mit Hilfe eines politischen Prozesses zu diskreditieren.

Trotzdem dient Franco weiterhin als der internationale Buh-Mann der europäischen Linken, während Oberst Boumedienne als Chef sämtlicher progressiver Kräfte in der Dritten Welt gefeiert wird. Niemand wird dieses nordafrikanische Land schuldig sprechen, wenn es die Emanzipierung der ehemaligen Kolonialvölker mit Energie fördert. Zahlreichen Europäern, die sich zur Intelligentsia zählen und gute und sohlechte Verhaltensnoten austeilen, muß dagegen der Vorwurf gemacht werden, daß sie in einer Art Schizophrenie auf der einen Seite politische Morde ablehnen, auf der anderen aber solche durchaus gutheißen. Diese Geisteskrankheit vieler europäischer Meinungsmacher erfüllt alle jene mit Sorge, die in der Freiheit und Würde des Menschen weiterhin das Postulat unserer Zivilisation sehen. Die Verwirrung ist bis weit in den Kern katholischer Verbände und in die Masse junger Kleriker eingedrungen. Mit Schrek-ken muß der Beobachter an einen ungeheuerlichen Vorfall denken: Eine Gruppe französischer katholischer Geistlicher und Laien billigte tatsächlich das Blutbad während der Olympischen Spiele in München!

Die Ultra-Linke kultiviert gegenwärtig den Mythos der Revolution, der seinen vollendetsten Ausdruck in der rücksichtslosen Anwendung von Gewalt findet. Damit ist der Terror ein beherrschendes Element der internationalen Ideologie geworden. In Verbindung mit der Erpressung wurde ein Mittel gefunden, die staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen* wie der Zweite Weltkrieg sie herauskristallisiert. hat, durch ein Chaos zu -ersetzen. Der öffentlichen Meinung ist es vielfach nicht klargeworden, daß Europa und die Welt neuerlich in einen Krieg verwickelt sind, der vorläufig andere Formen annimmt als die Schlachten von Stalingrad, Monte Cassino und der Normandie. Mit tiefer Unruhe,- ja mit Schmerz ist daher das Rückweichen, deutlicher gesagt, die Feigheit der europäischen Regierungen zu vermerken, die bisher nicht in der Lage waren, diese gigantische Herausforderung zu begreifen und ihr eine Selbstverteidigung entgegenzusetzen.

Vorläufig kann man die Abwehr-•kräfte Europas nicht als eindrucksvoll bezeichnen. An den Grenzen der westlichen Welt droht die größte Militärmaschinerie der Geschichte. Nie zuvor in unserem Jahrhundert potenzierte ein Imperium eine solche Macht wie gegenwärtig die Sowjetunion. Während der letzten NATO-Konferenz in Brüssel wurden höchst •bedenkliche Zahlen genannt. Der vierte Krieg im Nahen Osten bewies, daß die Streitkräfte des Warschauer Paktes waffentechnisch den NATO-Verbündeten überlegen sind. SAM 6, die FROG-Raketen und die MIG 25 dürften eine unvergleichlich gefährlichere Wirkung zeitigen als die Stukas der Luftwaffe des Dritten Reiches. Das Verteidigungspotential einer Zivilisation drückt sich jedoch nicht nur in der Anzahl von Divisionen, Panzerverbänden, Luftflotten und Raketenbatterien aus, die moralische Bereitschaft einer Nation oder einer Gruppe von Völkern, welche dieselben Werte zu schützen haben, ist um vieles wichtiger. Es ist falsch, zu behaupten, Frankreich wäre 1940 verteidigungsmäßig wesentlich unterlegen gewesen. Die Dritte Republik verfügte über ebenso viele Flugzeuge, Panzer und Divisionen wie die angreifenden Deutschen. Doch war in Frankreich die geistige Aufrüstung unterblieben.

Ähnliche Gruppen von Intellektuellen, Publizisten, politischen Kommentatoren und aktive Kreise revolutionärer Jugendlicher bereiten die westlichen Staaten gegenwärtig auf eine Invasion vor. Die Begriffe werden vertauscht, erzreaktionäre arabische Staaten gelten als progressiv. Einer kritiklosen Masse wird eingehämmert, daß eine Revolution sämtliche sozialen Ungleichheiten beseitigen und das Paradies auf Erden herbeizaubern werde. Spricht man mit Wortführern solcher Gruppen, wird der trostlose Mangel an realistischen Programmen deutlich. Heilsbotschaften und Visionen vermischen sich in einer eigenartigen Synthese, die geschickt im Interesse ihrer außenpolitischen Ziele von einer Weltmacht verwertet werden. In einem bemerkenswerten Aufsatz des Pariser Wochenmagazins „L'Express“ hat der als Politiker umstrittene, aber als Journalist anerkannte Jean-Jacques Servan-Schreiber mit verblüffender Klarsicht die Tendenzen der europäischen Entwicklung aufgezeigt. Von der Aufgabe Israels bis zur Kündigung der militärischen US-Basen in Westeuropa, von der Ausklammerung Frankreichs, Deutschlands, Großbritanniens und Japans aus dem westlichen Wirtschaftssystem bis zur endgültigen Finnlan-disierung dieser Länder sei es nur ein kleiner Schritt. Der Status der ehemaligen EWG werde dann mit jenem Polens oder der Tschechoslowakei unter Hitler zu vergleichen sein. Der Schlüssel zur europäischen Energieversorgung liege nicht etwa in Kairo oder Algier, sondern ausschließlich in Moskau.

Apokalyptische Prophezeiungen genügen natürlich nicht, um das Abendland vor dieser Gefahr zu retten. Die FURCHE veröffentlichte kürzlich eine Karikatur, die vorzüglich die gegenwärtige Situation illustriert: der Schlauch einer Petroleumleitung bläht sich zu einem grauenerregenden Schlangenkopf auf und hypnotisiert ein winziges Häschen, das „Europa“ heißt.

Noch gellt das Schlagwort in den Ohren: „Warum sollen wir für Dan-zig sterben?“ Dann allerdings mußten Millionen Menschen ihr Leben lassen, weil sie vorher nicht bereit waren, ein Risiko einzugehen.

Es ist notwendig, den europäischen Ideen einen neuen Elan, eine neue Dynamik zu verleihen. Das klingt natürlich attraktiv und schmückt die Erklärungen unserer Staatsmänner. Aber von diesen Kabinetten, vielfach verfilzt in personellen und wirtschaftlichen Konflikten zweitrangiger Natur, ist wenig zu erwarten. Viel eher sind die europäischen Bewegungen und Gruppen mit neuem und pulsierendem Leben zu erfüllen. Solchen privaten Initiativen ist es zu verdanken, daß die unvergessene Europakonferenz von Den Haag 1948 die Regierungen zwang, den Europarat zu gründen und weitere Initiativen bezüglich einer europäischen Integration zu ergreifen. Des weiteren dürfte es erforderlich sein, daß die beiden tragenden Kräfte Westeuropas, die Konservativ-Liberalen beziehungsweise Christlich-Demokratischen einerseits und der Humanistische Sozialismus anderseits, Konzepte präsentieren, welche den gesellschaftlichen Entwicklungen gerecht werden.

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