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Die schockierende Fassung für Graz…

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Dem Produkt einer intensiven Beschäftigung mit sich selbst wurde der Weg ins Rampenlicht mit der Zielsicherheit eines professionellen Marketings gebahnt. „Sehnsucht“ von Gerhard Roth wurde am selben Tag in Graz und Basel uraufge- führt, doch in Basel eine andere als in Graz. Nicht nur eine andere Interpretation, sondern ein Stück, das ganz anders ausgeht.

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Dem Produkt einer intensiven Beschäftigung mit sich selbst wurde der Weg ins Rampenlicht mit der Zielsicherheit eines professionellen Marketings gebahnt. „Sehnsucht“ von Gerhard Roth wurde am selben Tag in Graz und Basel uraufge- führt, doch in Basel eine andere als in Graz. Nicht nur eine andere Interpretation, sondern ein Stück, das ganz anders ausgeht.

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Auch der Konflikt des Autors mit Romana Prochnicka, die „Sehnsucht“ in Graz inszenieren sollte, worauf Wolfgang Bauer einsprang (und Roth unverkennbar einbauerte), wird dazu beitragen, daß über „Sehnsucht“ geredet und sicher noch mancher Regisseur Sehnsucht nach seiner eigenen „Sehnsucht“-Interpretation verspüren wird.

Kann schon sein, daß sich Roth selber nicht ganz schlüssig war, wie sein Stück ausgehen sollte, und deshalb mehrere Varianten lieferte. Wobei er dem Vernehmen nach die in Graz gespielte für die „richtige“ hält. Freilich - wäre er nicht unschlüssig gewesen, wie die Geschichte des nur mit sich selbst beschäftigten Dichters Albert Lindberg enden sollte, hätte ihm nichts besseres einfallen können, um das Interesse anzuheizen, als die Sache mit den Schlüssen zur Auswahl (erwürgte Ida, erschossener Hund oder beide tot). Auch den Miniskandal eines ausdauernd empört vor sich hin schimpfenden Besuchers, der Peter Uray auf der Bühne das Stichwort für eine Hasch-mich-was-bin-ich-schlag- fertig-Antwort lieferte, hätte er oder Wolfgang Bauer unbedingt erfinden müssen, statt sich darauf zu verlassen, daß derlei passieren werde. Ebenso müßte Gerhard Roth, hielte er die in Graz gespielte Fassung nicht tatsächlich für die bessere, auf jeden Fall so tun als ob - das zumindest ist er dem Steirischen Herbst und dem Wolfgang Bauer und der Erwartungshaltung der Fans schuldig.

Und einem Publikum, dem er doch nicht zumuten kann, einen im vorletzten Bild liebevoll in Szene gesetzten Sexualmord mit allem naturalistischen Drum und Dran nebst anschließender Selbstbefreiung durch das Erschießen eines von seinem spießigen und leicht nazistischen Herrl geliebten Hundes mit seinem Applaus gegenüber Buhrufern und Pfeifern zu verteidigen - wenn er nicht selber mit dem ganzen Geschäft dazu steht.

Hat das jüngste Wunderkind der österreichischen Literatur das nötig? Ein Gerhard Roth, der, nach all der verdienten Anerkennung für seine Bücher und den 1973 uraufgeführten „Lichtenberg“, wirklich nicht mehr befürchten muß, daß ein Stück von ihm in einer Dramaturgenkanzlei verschimmelt? Aber er hält ja das Grazer Schockerende für das bessere. Und jedenfalls - die Doppelstrategie haut hin. Für Graz die schockierende Fassung. Applaus von allen, die da und in und up sein wollen. In der Nestwärme ihres gemütlichen Elitebewußtseins auf das befriedigendste bestätigt durch die Minderheit der rückständigen Protestierer. Der Ruf wie Donnerhall. In Basel aber die Version, die alle Aussichten hat, ihren Weg zu machen. Jeder Regisseur kann es sich jetzt aussuchen. Vordergründig, theatralisch, blutig-effektvoll - oder verhalten, konsequent, episch und handlungslos bis zum geschickt vorbereiteten Knalleffekt des erschossenen Hundes.

Denn Bauers putziger Groteskstil täuscht. Genau das ist der Weg des geringsten Widerstandes, dieses Stück zu inszenierea Die leichteste, hier freilich artistisch beherrschte Tour. Gewiß, diese dreizehn Szenen sind voll von Ansatzpunkten für vordergründige Komik. Aber die Versuchungen zur Grazer Herbstlustigkeit, mitdenen dieses Stück jeden Regisseur überschüttet, sind zugleich Fußangeln. Gerhard Roth wäre sein Renommėe nicht wert, lagę nicht unter der Schicht von Gags und Witzigem sehr viel mehr. Die Darstellung eines Menschen und einer Situation von verwirrender Widersprüchlichkeit. Denn Albert Lindberg, der Autistische, dessen quälende Art zu lieben alles andere als oberflächlich ist, wird im selben zweistündigen Atemzug denunziert und liebevoll bemäntelt, zerfetzt und repariert angeklagt und verteidigt, bloßgestellt und von seinem Autor geliebt - das macht die Gestalt so vieldeutig, vielbödig, schwer definierbar. Die Entstehungsbedingungen des Stückes („Ich wollte mich selbst mit meiner Ehrlichkeit verletzen…“, schreibt Roth im Programmheft) schlagen hier zu Buche. Aber die Regie läßt die todtraurige Clownerie lachen, statt sie abzuschminken.

Dabei ist eS über weite Partien eine Aufführung von unbestreitbarem Format. Nur, daß halt die skurrilen Nebenfiguren um jene Spur zu skurril sind, welche die Stellen, wo nur noch der bittere Ernst herrscht, als Fremdkörper erscheinen läßt. Eben dieses Überwuchern des Skurrilen nimmt dem Mord am Ende die tödliche Konsequenz. Läßt ihn als Regieeinfall unter Regieeinfällen erscheinen. Wodurch der genüßliche Realismus, mit dem Bauer das geschehen läßt, erst so richtig widerwärtig wird. Der Sexualmord auf einer Ebene mit dem von der Hauptdarstellerin Petra Fahrnländer im Badetrikot souverän vorgeführten Hechtsprung „in den See“ (über eine Logenbrüstung). Hier wird eben das verfehlte Konzept deutlich (o,hne den Mord wäre es als eine Möglichkeit, dieses Stück zu inszenieren, zu akzeptieren gewesen). Und hier denunziert sich, unbeabsichtigt und um so deutlicher, die Haltung, mit der die Darstellung eines Mordes perfektioniert wurde, als V oyeurtum, bestenfalls als Werbetrick: Dieses Stück müssen Sie gesehen haben, mehr kann man auf der Bühne nicht zeigen…

Gerhard Balluch (Albert Lindberg), Petra Fahmländer (Ida), Walter Kohls (Apotheker), Franz Friedrichs (Nervenarzt), Hedda Andreas (dessen Frau), Robert Remmler und Brigitte Antonius (Albert Lindbergs Eltern)

spielen teils gut, teils besser, Peter Uray als Lehrer Odörfer, dem die Frau durchgegangen ist, gelingt genau die Balance zwischen Komik und tiefem Ernst, auf die es in diesem Stück so ankommt (ankäme). Doris Mayer als Sonja, die den Lindberg gern hätte, aber doch nicht kriegt, bleibt blaß, Lotte Marquardt als seine frustrierte Ehefrau ist das Kabinettstück einer solchen. Michael Balaun als junger Schauspieler: die vom Autor vorgesehenen Gags decken die Blößen.

Ganz groß ist das Verdienst des Ausstatters - Walter Schmögner. Die Landschaft am See im leuchtenden Antonioni-Blowup-Grün, mit weißen Gartenmöbeln drin, der Hang, der effektvolle Auftritte und Abgänge geradezu erzwingt, die Berge dahinter, die Wolken, die, seltsame Wesen, ihren Schöpfer nun wirklich nicht verleugnen können, dazu für jedes Bild eine andere, ausgeklügelte Lichtstimmung - das ist nun schon nicht mehr die Postkartenschönheit, die Roth vorschwebt, das ist schon ein bißchen mehr. Nämlich eines der besten Bühnenbilder, an die ich mich erinnern kann.

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