6804876-1972_01_08.jpg
Digital In Arbeit

Die Schullawine

Werbung
Werbung
Werbung

Einen Besucher Schwedens, der versucht, sich aus dem von offiziellen Stellen freigebig und überreichlich zur Verfügung gestelltem statistischem Material ein Bild über die Entwicklung des Bildungs- und Schulwesens zu machen, wird feststellen müssen, daß kaum ein anderes Land Europas soviel für die Schulung seiner Jugend und die nachschulische Bildung seiner Erwachsenen getan hat. Und wenn er zu jenen gehört, die glauben, daß sie aus statistischen Zahlenreihen die reine unverfälschte Wahrheit erkennen können, wird er voller Bewunderung heimkehren und seinen Landsleuten empfehlen, ihre weiteren Schritte im Bildungsbereich von dem aus dem Norden kommenden Licht leiten zu lassen. Zu Schlußfolgerungen ähnlicher Art sind tatsächlich auch ausländische Fachleute öfter gekommen, während andere etwas vorsichtiger urteilten; seit einigen Wochen dürfte die Zahl der zweiten Kategorie allerdings in der erdrückenden Mehrheit sein, denn seither ist allerhand geschehen.

Die Pflicht zur Objektivität gebietet, festzustellen, daß Schweden auf dem Gebiet des Bildungswesens Hervorragendes geleistet hat. Seine neunjährige Grundschule mit ihren Wahlmöglichkeiten dm zweiten und dritten Drittel äst zweifellos eine der modernsten der Welt. Die freien Schulmahlzeiten für jeden Schüler entheben die erwerbstätigen Eltern einer großen Sorge. Die freien Lehrmittel müssen den Neid älterer Generationen erwecken. Die schwedischen Berufsschulen, die weitgehende Gleichstellung der Berufsschüler mit den Studenten in bezug auf die Stipendienberechtigung, die Fahrt-und Wohnungsbeiträge für die Studierenden und so manches andere ist sogar in der reichen Bundesrepublik noch Zukunftsmusik; auch die

Schweiz und Österreich haben hier noch vieles nachzuholen. Dazu kommt nun noch die heute stark im Ausbau begriffene Erwachsenenbildung und es ist wahrlich nicht wenig, was Schweden auf diesem Gebiet geleistet hat!

Da nun einmal die Zahlen die stärkste Überzeugungskraft besitzen, seien hier einige angeführt; daß sie den oberflächlichen Beobachter auch täuschen können, wurde bereits angedeutet.

In den Altersgruppen über, 59 Jahren besitzen nur 10 Prozent der Bevölkerung eine Schulbildung von neun oder mehr Jahren; von den 45 bis 59 Jahre alten Personen sind es 20 Prozent, in der Altersgruppe von 20 bis 24 Jahren sind es schon 70 Prozent und von den Fünfzehn-bis Neunzehnjährigen erhalten 90 Prozent eine mindestens neunjährige Schulausbildung.

Eine wahrhaft explosionsartige Entwicklung hat die Erwachsenenbildung genommen: Von den insgesamt acht Millionen Einwohnern Schwedens nehmen heute zwei Millionen an irgendeinem der Ausbildungskurse teil, die für Erwachsene veranstaltet werden. Da 90 Prozent der Besucher der Grundschule weiter in die Gymnasien, die Berufsschulen, die Volkshochschulen, die Erwachsenenschulen der Gemeinden oder an die Universitäten gehen, geraten die älteren Erwachsenen mit einer geringeren Schulbildung in eine sehr schwierige Situation.

Seit 1969 können deshalb auch

Personen ohne formale Berechtigung (GymnasialauSbildung) an Hochschulen und Universitäten studieren, allerdings nur innerhalb gewisser Fachgebiete.

Man braucht nicht viel an Scharfblick, uim zu erkennen, daß hier zahlreiche Probleme neuer Art entstehen müssen, zuallererst solche finanzieller Natur. Am 12. November 1971 kam es im Parlament zu Stockholm zur Explosion jener Bombe, an welcher der Finanaminister seit einiger Zeit gebastelt hatte: Finanzminsister Sträng sagte klipp und klar, daß die großartigen Bdldungspläne der bildungsbeflissenen Politiker über das finanzielle Leistungsvermögen

Schwedens hinausgingen und daß man sich künftig nach den vorhandenen Möglichkeiten werde richten müssen, wenn man wünsche, daß dem Arbeitnehmer nach Bezahlung der Steuern noch etwas zum Leben übrigbleibe!

Herr Sträng stellte auch die Frage, ob wirklich jeder Studierende das Recht habe, seine akademische Ausbildung durch die Steuerzahler finanziert zu bekommen. Der Finanzminister verlangte, daß sich künftig jeder Student einer „Beratung“ unterziehen, daß er „eine Art von Schwelle“ passieren müsse und daß man jedem Schüler, der praktisch veranlagt sei, vom Besuch einer Hochschule abraten sollte.

Die Wahl des richtigen Vaters

Schockierend wie die Erklärung des Finawzministers war das Ergebnis einer Untersuchung, die klar erkennen Meß, daß es zu dem seit langem angestrebten sozialen Ausgleich im Schul- und Bildungswesen noch lange nicht gekommen ist.

Trotz der Veränderungen, die das System der Grundschule mit sich gebracht hat, haben auch heute noch 70 Prozent aller jener Personen, die der Sozialgruppe III zugerechnet werden (Arbeiter, Handelsangestellte, Hauspersonal, mittlere öffentliche Angestellte und Kleinbauern) nur sieben Jahre Schulbildung oder weniger. Dagegen befinden sich 75 Prozent aller jener, die 16 oder mehr Jahre Schulbildung hinter sich haben, in der zahlenmäßig sehr schmalen Sozialgruppe I. Von den Studenten im Alter zwischen 20 und 24 Jahren kommen 75 Prozent aus der Sozialgruppe I, die schätzungsweise nur 4 Prozent der Bevölkerung umfaßt.

Das Bemerkenswerte ist, daß die umfassende Reform des Schulwesens an der überragenden Stellung der Sozialgruppe I an den Hochschulen und Universitäten wenig oder nichts zu ändern vermocht hat: Nach wie ver ist nicht der finanzielle Beitrag, sondern der soziale Status der Eltern der entscheidende Faktor.

„Was Hänschen nicht lernt...“

Einer Generation angehörend, die es unvorstellbar schwerer hatte, sich ein Endchen Bildung anzueignen als jene, die heute die Hochschulen bevölkert, fällt es dem Schreiber dieses Berichtes wirklich schwer, auf jene Irrwege hinzuweisen, die gerade die Erwachsenenbildung in Schweden gegangen ist.

Die Erwachsenen, die nur eine unzureichende Schulbildung hinter sich haben, können heute in Schweden mit staatlicher und kommunaler Hilfe auf vielfache Art das Versäumte nachholen.

Bei einer jüngst in Norrköping abgehaltenen Konferenz der Fachleute für die Erwachsenenbildung bezweifelte aber der Lektor der Stockholmer Lehrerhochschule, Doktor Torsten Eliasson, die Richtigkeit der Annahme, daß diese Schulung die soziale Kluft zwischen den Generationen verringern werde. Allein die zu erwartende „Bildungslawine“ mache schaudern, meinte Eliasson. Heute seien es zwei Millionen Erwachsene, mit denen man sich beschäftigen müsse, 1985 sollen es fünf Millionen sein. Schon die jetzt tätigen 200.000 Lehrer hätten eine zu geringe Ausbildung genossen.

Aus einigen Städten kommen Berichte, nach denen in einzelnen Kursen nach wenigen Stunden bis zu 75 Prozent der ursprünglichen Schüler nicht mehr zum Unterricht erscheinen. Wertvollstes Studienmaterial wird nutzlos .angekauft, Millionen werden sinnlos verschleudert. Vor allem erwies es sich als unmöglich, die in einem Arbeitsverhältnis Stehenden über längere Zeit für die Studien zu interessieren. Die Lösung wäre, so sagte man auf dieser Konferenz, ein bezahlter Sonderurlaub. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, welche Antwort der Finanzminister geben wird ...

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung