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Die Schulpflicht: das letzte Tabu

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Was kann ein Gesetz bewirken, das Kinder formal verpflichtet, die Schule zu besuchen? Es ist höchste Zeit, diese „Heilige Kuh“ der Bildungspolitik und Pädagogik zu schlachten.

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Was kann ein Gesetz bewirken, das Kinder formal verpflichtet, die Schule zu besuchen? Es ist höchste Zeit, diese „Heilige Kuh“ der Bildungspolitik und Pädagogik zu schlachten.

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Manch einer sorgt sich um die Schule: In der Bildungsreformdiskussion hätte man über alles und jedes geredet, herausgekommen sei dabei kaum etwas, außer, daß den Eltern und den Schülern die Diskussionen langsam zum Halse heraushängen. Und die Lehrer hätten sowieso hauptsächlich das gemacht, was sie immer schon getan hätten, nach ihren eigenen Vorstellungen unterrichtet, mehr oder weniger immer am Lehrplan entlang.

Es mag sein, daß manch einer, der an den Diskussionen beteiligt oder von ihnen betroffen war, heute nicht mehr so recht mag, aber eines stimmt auf keinen Fall: Es wird keineswegs über alles und jedes diskutiert, jedenfalls nicht öffentlich.

Uber die Schulpflicht beispielsweise gab und gibt es keine öffentliche Diskussion. Da herrschte Einigkeit zwischen Bewahrern und Veränderern, gleichgültig, welchen politischen Lagern sie angehören: Schulpflicht muß sein. Warum eigentlich?

Osterreichische Gründe, die Schulpflicht nicht in Frage zu stellen, gibt es nicht. Sie wurde, ohne die Verdienste der Urmutter aller österreichischen Bildungspolitik, Maria-Theresia, schmälern zu wollen, nämlich nicht in Österreich erfunden. In Preußen übrigens auch nicht. Da gab es nämlich auch im später so perfekten Preußen noch keine Schule, wie wir sie heute noch kennen, mit Schulhaus und Schulmeister und was sonst noch alles dazugehört. Einmal wöchentlich mußte der Küster den Katechismus lehren und—eine erste staatliche „Prüfungsordnung“! — auch abfragen.

Im siebzehnten Jahrhundert begann in den Städten der organisierte Unterricht, fast durchwegs privat. Auf dem platten Lande mußte man sich mit der Schule des mühsamen, arbeitsreichen und meist sehr kurzen Lebens begnügen. Das war zwar „grün“, aber ganz und gar nicht romantisch.

In den Zirkeln der „Gebildeten“, der Mächtigen und Machthaber, dachte man freilich — ganz offensichtlich beeinflußt durch die Nachwirkungen von Renaissance und Reformation—über die Bildung der einfachen, der „niederen“ Stände nach.

In Weimar brachte man 1619 frühe Schulpflicht-Ideen erstmals zu Papier, und 1642 erließ im Herzogtum Gotha Ernst der Fromme (!) so etwas wie ein Schulgesetz unter dem erschöpfenden Titel: „Spezial- und sonderbarer Bericht, wie nächst göttlicher Verleihung die Knaben und Mägdlein auf den Dorfschulen und in den Städten die unter dem untersten Haufen der Schuljugend begriffenen Kinder im Fürstentum Gotha kurz und nützlich unterrichtet werden können und sollen.“

„Die Schulpflicht entzog sich nicht dem politischen Trägheitsgesetz.“

Die kühne Reformmaßnahme Schulpflicht - als solche muß sie, ungeachtet der jeweiligen Beweggründe, durchaus gesehen werden — entzog sich nicht dem allgemeinen bildungspolitischen Trägheitsgesetz. Es geschah zunächst und lange Zeit nichts — oder nicht viel. Auch hundert Jahre später waren die fürsorglich eingerichteten Schulen noch gähnend leer. Bauern brauchten die Kinder auf dem Feld, und Städter bildeten ihren Nachwuchs selber aus oder ließen dies - den Adel imitierend - durch Bedienstete tun, so sie es sich leisten konnten.

Die Bürger in den kleinen Städten beunruhigten Monarchen in diesen Tagen noch nicht sehr; anders als die Aristokraten, die sollten nicht allzu mächtig werden. Vor allem gegen diese richtete sich, nach Auffassung kritischer Historiker, die preußische Schulordnung von 1717. Der König wollte die Bauern aus der absoluten, eben immer auch ideellen und intellektuellen Abhängigkeit der Grundherren herausführen.

Kein Wunder, wenn diese die ausführliche und umständlich christlich und staatsmännisch begründeten Reformmaßnahmen Friedrich Wilhelms II. unterlaufen wollten.

Die „Bremser“ hatten Erfolg: die Schulen blieben weiterhin leer, und das, obwohl es dort, wo Schulen nicht nur eingerichtet, sondern auch besucht wurden, zu spektakulären Erfolgen kam.

Der enttäuschte Landesvater sann auf Abhüfe. Wenn die Eltern und Vormünder die Notwendigkeit und den Sinn nicht selbst einsahen, mußte man sie eben dazu mit staatlicher Gewalt zwingen. Zumal in der Zwischenzeit die erzfeindlichen Brüder im Süden des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, die Cousinen und Cousins in Osterreich, Böhmen, Ungarn usw. usw. ebenfalls das Schulwesen erneuert und zu einem gestuften Bildungssystem entwickelt hatten, das verblüffend an die Strukturvorschläge des Bildungsrates aus den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts erinnert.

Kein Wunder, hatte doch die weise und fruchtbare Kaiserin in Wien eine ganz wesentliche Methode neuzeitlicher Bildungsreform vorweggenommen und die Neuordnung ihres „Volkserziehungswesens“ in die Hand von professoralen Experten und pluralistischen Kommissionen gelegt.

Die Schule, zu deren Besuch man alsbald verpflichtet wurde, hatte es freilich in sich. Noch Anfang des 19. Jahrhunderts erzog man nicht abstrakt zum „Schönen, Wahren und Guten“, da war man überaus konkret, und man forderte unter anderem: Ertötung des natürlichen Menschen und seiner sinnlichen Triebe, unbedingte Beugung der Schüler unter die göttliche Autorität, eifrigste Erfüllung aller religiösen Pflichten, Verlängerung der Andachtsübungen, verschärfte Überwachung des Kirchganges und noch vieles andere mehr, was der „politischen Erziehung“ dienen sollte.

Die Kinderarbeit freilich wurde erst Ende des 19. Jahrhunderts verboten. Wer wollte unter solchen Umständen in die Schule, wer konnte sich den Schulbesuch leisten? Nur: gemußt hätte man auch schon damals.

„Schulen und Schullaufbahnen gibt es hier und heute mehr als genug.“

Etwa dreihundert Jahre hat es gedauert, bis die ersten Ideen zum „Schulzwang“ zur allgemein erfüllten Schulpflicht geworden sind. Werden geltende Bestimmungen nun auch nochmals dreihundert Jahre in Kraft bleiben? Und: Warum eigentlich?

Was konnte und kann ein Gesetz eigentlich bewirken, das Schüler und Eltern formal verpflichtet, die staatlich eingebundene Schule, ob in öffentlicher oder in privater Trägerschaft, zu besuchen?

^Schulpflicht“, so der Schulpädagoge Anton Mayer, „ist vielmehr von ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen abhängig und... nur dann wirksam, wenn sie als soziale Norm anerkannt und institutionell abgesichert ist.“

Schulen und Schullaufbahnen -„Institutionen“ also — gibt es hier und heute mehr als genug, und Ausbüdung und Erziehung sind in unserer Gesellschaft als verbindliche und nützliche Norm weitgehend anerkannt und sanktioniert — nicht bloß rechtlich oder ökonomisch, längst auch sozial.

Das bedeutet aber, daß die wesentlichen Voraussetzungen für regelmäßigen Schulbesuch, nämlich Einsicht in die Notwendigkeit und die Möglichkeit, dieser Einsicht auch zu entsprechen, gegeben sind. Und wenn diese Einsicht sich nicht auf die staatliche Schule bezieht, sondern auf Bildung, die anderswo erworben werden kann, ist das so schlimm?

Was also soll dann noch die staatlich verordnete und sanktionierte „Schulpflicht“! Wäre sie heute tatsächlich noch nötig, dann hätten Politiker und Pädagogen versagt.

Es gibt kaum etwas in der Pädagogik, das bildungspolitisch nicht umstritten ist. Eine der wenigen Ausnahmen ist der „Schulzwang“, pardon: die „Schulpflicht“. Warum eigentlich?

Der Autor ist als Wissenschaftler und Hochschullehrer am Zentralen Institut für Fernstudienforschung an der Fernuniversität in Hagen und an der Freien Universität in Berlin tatig.

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