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Die Schweizer und die Österreicher

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Von Natur aus sind die Schweiz und Österreich Nachbarländer. Also wäre es nur natürlich, daß sich Schweizer und Österreicher gut kennen. Aber das Gegenteil ist der Fall. In Jedem der beiden Länder besteht eine große Ahnungslosigkeit über das andere. Die meisten Österreicher haben so gut wie keine Kenntnis von der Schweiz und ihren Problemen, selbst wenn sie die Schweiz schon besucht haben. Ebenso hat nur eine Minderheit von Schweizern eine echte Kenntnis von Österreich. Rund 80 Prozent aller Schweizer kennen kaum Wien, sondern bestenfalls Westösterreich.

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Von Natur aus sind die Schweiz und Österreich Nachbarländer. Also wäre es nur natürlich, daß sich Schweizer und Österreicher gut kennen. Aber das Gegenteil ist der Fall. In Jedem der beiden Länder besteht eine große Ahnungslosigkeit über das andere. Die meisten Österreicher haben so gut wie keine Kenntnis von der Schweiz und ihren Problemen, selbst wenn sie die Schweiz schon besucht haben. Ebenso hat nur eine Minderheit von Schweizern eine echte Kenntnis von Österreich. Rund 80 Prozent aller Schweizer kennen kaum Wien, sondern bestenfalls Westösterreich.

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Dieses Phänomen ist interessant. Es hat viele Ursachen. Einer der hauptsächlichsten Gründe, warum die Schweiz für Ausländer bedeutungsvoll war, fällt für den Österreicher weg: die Schönheit der Landschaft und insbesondere der Gebirge. Die romantische Liebe so vieler Reisender zur schweizerischen Gebirgswelt fand beim Österreicher keinen Platz. Denn er nennt selbst eine wunderschöne Gebirgswelt sein eigen, er mußte nicht aus Gründen des Urlaubs oder des Sports in die Schweiz reisen, sondern konnte sich mit der (angeblich billigeren) Heimat begnügen. Viele Österreicher lernten die Schweiz sowohl nach dem ersten wie auch nach dem zweiten Weltkrieg kennen. Dank der großzügigen Schweizer Hilfsbereitschaft wurden Zehntausende von verhungerten österreichischen Kindern nach den Jahren 1918 und 1945 in der Schweiz wieder aufgefüttert. Aber Wahltaten vergißt man leider nur zu bald. Und so ist für diese Österreicher der Aufenthalt in der Schweiz nur eine blasse Erinnerung an schöne Tage in einem Land, in dem Milch und Honig fließen.

Wenige Österreicher lernten die Schweiz als politische Flüchtlinge-kennen, wenige als Studenten, die vielleicht die weltberühmte ETH in Zürich besuchten. Aber die letztere Gruppe kehrte ja fast nie mehr in die Heimat zurück, sondern wurde gleich nach Deutschland oder in die USA berufen. Nach dem zweiten Weltkrieg gingen viele Österreicher in die Schweiz, besonders um im Hotelfachgewerbe, aber auch sonst in anderen Branchen gut zu verdienen. Die beiderseitigen Erfahrungen waren nicht immer die besten. Manche Österreicher klagten darüber, daß sie ausgenützt würden, viele Schweizer klagten, die Österreicher seien nicht immer sehr ehrlich. Aber auch diese Arbeitnehmer in der Fremdenverkehrsindustrie sind ja nur ein kleiner Bruchteil des österreichischen Volkes, so daß also wirklich nur ein verschwindender Prozentsatz der Österreicher die Schweiz wirklich kennt.

Unbekanntes Österreich

Auch die Unkenntnis der Schweizer gegenüber Österreich ist nicht gering. Und auch dies hat seine Gründe. Die moderne Schweiz wurde im Jahr 1848 geboren. Sie war ein Kind des europäischen Liberalismus. Alle europäischen Liberalen blickten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Frankreich. Der politische, wirtschaftliche und kulturelle Einfluß Frankreichs auf seine Nachbarländer war von einer ungeheuren Intensität. Sogar die Uniformen der Schweizer Armee, aber auch der italienischen, ja sogar jener der USA und der mexikanischen, zeigten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Schnitt, den die französische Armee für ihre Uniformen im Zweiten Kaiserreich eingeführt hatte und bis zum Beginn des ersten Weltkrieges behielt. „Gut essen“ heißt heute noch in der Schweiz französisch essen. Neben dieser offenen Liebe zu Frankreich hatte die Schweiz teilweise auch noch eine geheime Liebe zum deutschen Kaiserreich, dessen Tüchtigkeit den tüchtigen Schweizern natürlich imponierte. Das Bundeshaus in Bern sieht aus wie ein Justizministerium in irgendeiner deutschen Residenzstadt, und die Nebenflügel des Bundeshauses machen den Eindruck von nüchternen preußischen Kasernen.

Die Habsburger-Monarchie, die vor den Toren der Schweiz sich ausbreitete (sehr lange Zeit in weit größerem Ausmaß als heute; die wenigsten werden sich dessen erinnern, A daß Chiasso, der Übergangsort vom te Tessin in die Lombardei bis 1859, eine österreichische Grenzstation war), galt für die Mehrheit der Schweizer als ein nichtliberaler, undemokratischer Staat, dessen Bewohner zwar ein gewisses „savoir vivre“ besaßen, aber weit entfernt vom puritanischen Fleiß der Deutschen waren. Eine gewisse Popularität besaß die Habsburger-Monarchie nur bei den Schweizer Katholiken, und dies machte sie gerade bei der offiziellen Schweiz suspekt. Für das liberale Denken vieler Schweizer galten die katholischen Eidgenossen als nicht ganz zuverlässig und somit als Staatsbürger zweiter Klasse. Nach der offiziellen Version hatten ja im Sonderbundskrieg 1847 die katholischen Kantone gegen die nichtkatholischen gekämpft, und ihre Niederlage war erst die Voraussetzung für die Gründung des Schweizerischen Bundesstaates gewesen. Dieser antikatholische Affekt der offiziellen Schweiz (von 1848 bis 1891 kamen sämtliche Minister nur aus der Liberalen Partei), der auch dem Ansehen Österreichs schadete, hinterließ seine Spuren bis in die Gegenwart: Bis heute gibt es keinen schweizerischen Botschafter am Vatikan und bis heute besitzt die Schweizer Verfassung die Bestimmung, daß (zumindest offiziell) Klöster im Land nicht existieren dürfen und Jesuiten keine seelsorgliche Tätigkeit ausüben können.

Affekte gegen Habsburg

Eine falsche Einstellung der meisten Schweizer zum Haus Habsburg verstärkte noch die Unkenntnis der Eidgenossen über ihren Nachbarn.

Auf Grund vieler Lesebuchgeschichten gilt für zahlreiche Schweizer die Familie Habsburg als der „Erbfeind“ schlechthin, was eigentlich verwunderlich ist, da die Habsburger ja aus der Schweiz kommen.

Ich erinnere mich mit Heiterkeit an einen Besuch im Schweizerischen Archiv von Schwyz, wo mir der Führer die berühmte Urkunde von 1291 zeigte, mich mit düsterem Blick ansah und bissig bemerkte, das sei ein Dokument aus der Zeit des Kampfes der Eidgenossen gegen die Habsburger. Er sperrte dann den Mund sehr auf, als ich ihm lächelnd erwiderte, daß mich die internen Auseinandersetzungen zwischen Schweizern doch nichts angingen.

Bei den Lesebuchgeschichten, die in der Schweiz gegen das Haus Habsburg aufgetischt werden, kommt immer wieder das Auftreten harter habsburgischer Vögte in

Schweizer Landen zur Sprache. Gewiß mögen diese manchmal nicht sanft vorgegangen sein, aber auch die Vögte des Kantons Bern waren, wie die Geschichtsforschung bewiesen hat, nicht immer die zartfühlendsten Beamten, und manchmal hat der Außenstehende den Eindiruck, daß bei der Behandlung der Jura-Frage durch den Kanton Bern etwas von dieser Tradition Bernischer Vögte übriggeblieben ist. Die Haltung der habsburgischen Vögte in ihrem Stammland weicht somit nicht ab von der Haltung der Vögte jener Zeiten überhaupt. Im übrigen hat auch die Schweizer Geschichtswissenschaft, hier insbesondere Gon-zague de Reynold, nachgewiesen, daß die Schweizer Bauern manchmal recht provokatorisch gegen die Habsburger und ihre Vögte vorgingen. Populär bis ins 20. Jahrhundert waren die Habsburger nur bei den Schweizer Katholiken (im Kloster Einsiedeln wurden bis 1950 alljährlich Seelenmessen für die habsburgischen Söldner gelesen, die in der Schlacht bei Morgarten gefallen waren). Und das machte sie natürlich bei den liberalen Schweizern, die die Mehrheit bildeten, suspekt. Die Aversion so vieler Schweizer gegen das Haus Habsburg ist eigentlich unbegreiflich. Die Schweizer haben im Laufe ihrer Geschichte zahllose bedeutende Menschen in alle Welt gesandt — als Gelehrte, als Offiziere und Politiker. Die Habsburger aber waren zweifellos ihr erfolgreichster Export. Diese Schweizer Familie vermochte schließlich ein Weltreich zu begründen. Bin Weltreich, in dem sie immer wieder versuchten, urschweizerische Grundsätze durchzusetzen, als da waren: die Gleichberechtigung der Nationen und Sprachen, die Durchsetzung demokratischer und sozialer Grundrechte (bekanntlich führte Philipp II. den Achtstundentag in Lateinamerika ein).

Die'Zeit ist reif

Aber die Zeit ist weitergegangen. Und die Mode, romantischen Ansichten anzuhängen, ist vorbei. Harte Wirklichkeit zwingt die Eidgenossenschaft und zwingt die Genossenschaft österreichischer Bundesländer, doch endlich einander näherzukommen. Beide Staaten sind heute in einer nicht unähnlichen politischen Situation. Beide Staaten sind neutral. Beide Staaten gehören der EFTA an und haben ihre Probleme bei dem Bestreben, sich mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu arrangieren. Beide Staaten — die als neutrale Staaten ja kein Bündnis miteinander schließen können — können dennoch viel voneinander lernen und einander viel nützen. Der Schweiz kann es nicht gleichgültig sein, wie die militärische Lage Österreichs sich entwickelt, denn diese spielt im gesamtmilitäri-schen Konzept der Schweiz sicherlich eine Rolle. Österreich wiederum kann es nicht gleichgültig sein, an einen Staat zu grenzen, von dem es weiß, daß von seiner Seite absolut keine Gefahr droht, einen Staat, der immer einen Ausweg in die Freiheit bilden wird. Der Möglichkeiten, einander zu helfen und zu nützen, gibt es viele. Begonnen werden muß mit dem Abbau der Unwissenheit des einen Landes über das andere. Fortgesetzt kann dieser Weg werden durch viele Gespräche zwischen schweizerischen und österreichischen Wissenschaftlern, Generalstäblern und vor allen Dingen Kaufleuten. Die nüchterne Welt des Kaufmannes hat noch zu allen Zeiten friedlichere und weit wirksamere Beziehungen hergestellt als die rauhe Hand des Soldaten.

So ist denn die Zeit gekommen, daß diese beiden neutralen Staaten durch gegenseitige Unterstützung in Mitteleuropa eine feste Insel bilden, von der aus Friede und Sicherheit in das übrige Europa ausstrahlen.

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