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Die Sehnsucht der Mitte

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Die Franzosen sind ein eigenartiges Volk. Sie feiern mit Pomp jährlich die glorreichen Stunden des Sturms auf die Bastille, verwenden zu oft- das Wort Revolution, leisteten sich beinahe den Luxus einer solchen im Mai 1968, aber halten sogar in turbulenten Tagen gewisse Spielregeln ein. In Wirklichkeit sind sie die konservativste Nation Westeuropas. Obwohl die Bürger und ihre Parteien auch heute gern als linksstehend gelten möchten, bekennen sie sich im wesentlichen zur klassischen Mitte. Niemand will allerdings als rechts oder konservativ eingestuft werden. Und Staatspräsident Pompidou hat einmal in launiger Stimmung der gaullistischen Sammelpartei UDR das schmückende Beiwort „sozialistisch“ verliehen.

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Die Franzosen sind ein eigenartiges Volk. Sie feiern mit Pomp jährlich die glorreichen Stunden des Sturms auf die Bastille, verwenden zu oft- das Wort Revolution, leisteten sich beinahe den Luxus einer solchen im Mai 1968, aber halten sogar in turbulenten Tagen gewisse Spielregeln ein. In Wirklichkeit sind sie die konservativste Nation Westeuropas. Obwohl die Bürger und ihre Parteien auch heute gern als linksstehend gelten möchten, bekennen sie sich im wesentlichen zur klassischen Mitte. Niemand will allerdings als rechts oder konservativ eingestuft werden. Und Staatspräsident Pompidou hat einmal in launiger Stimmung der gaullistischen Sammelpartei UDR das schmückende Beiwort „sozialistisch“ verliehen.

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Die Wahltermine sind noch nicht fixiert. Aber die innenpolitischen Karten werden neu gemischt, myste-

riöse Dėjeuners von Politikern organisiert, Kommuniąuės verfaßt und jene berühmten kleinen Sätze fallengelassen, die vieles andeuten sollen und bei einer strengen Analyse wenig aussagen. Die Wahlberechtigten betrachten dieses Schauspiel mit gewisser Ironie, manchmal mit echtem Interesse. Sie wollen — alle Meinungsumfragen sind sich darüber einig — weiterhin eine stabile Mehrheit, die jedoch Akzente versetzt. Staatspräsident Pompidou hat in seiner letzten Pressekonferenz angedeutet, daß die gegenwärtige Mehrheit gewissen Veränderungen unterworfen werden könnte. Bisher war die politische Geographie nach dem Tode de Gaulles einfach und entsprach vollkommen dem Konzept der Gaullisten, wie es der Exkultusminister nicht nur einmal pathetisch ausgerufen hatte: „Die Nation hat nur die Wahl zwischen uns und den Kommunisten.“

Linke Sekten

In der Tat waren die Parteien des linken Zentrums aufgespalten und konnten viel eher in die Kategorie von Sekten eingereiht werden. Die Sozialisten genossen in masochistischer Freude ihre Richtungskämpfe, die Zentrumsgruppen Lecanuet und Duhamel — die einen in der Opposition, die anderen in der Regierungsmehrheit — verhielten sich zueinander wie Hund und Katze. Parteigründer traten auf und versprachen, die Mitte zu einigen, zu restrukturieren. Als einen Herold solcher Bestrebungen konnte der Beobachter den Bürgermeister von Mühlhausen am Werke sehen, der den klassischen französischen Namen Mueller trägt. Er wollte eine humanistische, sozialistische Partei im Stile der englischen bilden. Weiter firmierte der Gaullist der ersten Stunde und spätere erbitterte Gegner des Generals, Jacques Soustelle, seine Bewegung als in oder Mitte stehend. Die potentiellen Anhänger des Zentrums, nach den Präsidentschaftswahlen 1965 und 1970, es sind dies immerhin 16 bis 25 Prozent, blickten mit Sehnsucht in die Richtung des Palais Luxembourg. Dort amtiert der zweite Mann des Staates, Freund und Mitarbeiter Robert Schumanns, einer der letzten profilierten christlichen Demokraten. Aber Poher hat sich im System der Fünften Republik etabliert, richtet von Zeit zu Zeit milde Grußbotschaften an seine ehemaligen Wähler und hat bis jetzt wenig Neigung gezeigt, in die Parteipolitik zurückzukehren.

Bis vor kurzem hatte daher das

Zentrum nur einen politischen Ausdruck. Es ist dies die Organisation Lecanuets und Abelins, die zwar kein Schattendasein fristete, aber die eigenen Hürden kaum überspringen konnte. Präsident Lecanuet, wiedergewählter Bürgermeister von Rouen, zeigte gelegentlich Neigungen, mit der Mehrheit zu diskutieren. Generalsekretär Abelin dagegen verteufelte das Regime und sehnte sich nach der linken Föderation, wie sie im 6. Jahrzehnt vom Bürgermeister von Marseille, Gaston Defferre, projektiert worden war.

Abelin fand im vorzüglichen Parlamentarier, gleichzeitig Weltpräsidenten der Interparlamentarischen Union, Chandemagor, eine gleichgesinnte Seele. Unterstützt vom gaullistischen Exlandwirtschaftsminister Pisani — sein Mephistogesicht bleibt den Helden zahlreicher Agrar- schlachten in Brüssel in Erinnerung —, versammelten diese aufrechten Vorkämpfer einer mutierten Mitte, einstige Christdemokraten, rechtsstehende Sozialisten und reformfreudige Radikalsozialisten zu Symposien, die unter dem Namen „Gespräche von Orsay“ zahlreiche Hoffnungen erweckten. Des öfteren wurde angenommen, daß sich dort Ansatzpunkte zu der oft besprochenen und nie realisierten humanistischen Arbeiterpartei finden würden.

Aber es gibt ja nicht nur eine Linke, sondern auch eine rechte Mitte. Diese ist vielleicht stärker in der Nation verankert als jene Gruppierung, die, aus der christlichen Demokratie stammend, die Aspirationen ihrer Wähler so lange mißdeutete, bis sich diese enttäuscht dem Gaullismus zuwandten.

Als die offiziellen Sprecher einer Sammlung der Mitte rechts treten immer bewußter die unabhängigen Republikaner Giscard d’Estaings in Erscheinung. Sie nahmen teilweise die „Gemäßigten“ des Exministerpräsidenten Pinay in ihren Reihen auf. Gleichzeitig stellten sie organische Querverbindungen zu den noch bestehenden Resten dieser für die Vierte Republik bestimmenden Kraft her. Ministerpräsident a. D. Pinay hatte rückhaltlos Pompidou bei den Präsidentschaftswahlen unterstützt. Ihm wurden mehrfach hohe Ministerämter angeboten. Er ist zumindest in monetären Fragen ein Gewissen der Nation. Der Mann mit „dem kleinen Hut“ beginnt allerdings seit Wochen die Finanzpolitik der Regierung zu kritisieren und spricht von Alternativlösungen. Diese Mahnungen und Wünsche des Mentors stoßen bei den unabhängigen Republikanern, soweit sie nicht als Minister Macht und Ruhm genießen, auf Bereitschaft, die bisherigen Formen der Zusammenarbeit innerhalb der Mehrheit zu überprüfen. Über dieser Gruppe schwebt wie ein Geist über dem Wasser die unvergessene Parole Giscard d’Estaings: d’Estaings: „Ja — aber.“

Die Finanzdemokraten

Wortführer dieser Kreise wurde Generalsekretär Poniatowski, seines Zeichens Prinz polnischer Abstammung und in stillen Stunden Gesell schaftsphilosoph. Am 16. August warf Poniatowski einen mächtigen Pflasterstein in den friedlichen See der Innenpolitik. Er verlangte die Gründung einer großen Föderation des Zentrums und die getrennte Aufstellung von Kandidaten der Mehrheitspartei. Die damit verbundenen Polemiken nehmen seit Beginn der politischen Herbstarbeit zu. Obwohl Präsident Pompidou die Erklärungen Poniatowskis verniedlichte, wird angenommen, daß dieser Hecht im Karpfenteich mit Zustimmung seines Ministers ein wenig den Schleier von den politischen Wünschen des ehrgeizigen Finanztechnokraten gehoben hat. Verklausuliert gab die Fraktion der Unabhängigen Republikaner ihrem Generalsekretär recht. Le- canuet, mehrfach auf die Ausführungen Poniatowskis angesprochen, verwendet ebenfalls das „Ja — aber“. Er lud am 27. September die Unabhängigen Republikaner ein, die Regierungsmehrheit zu verlassen. Damit würde die Errichtung einer Zentrumspartei gefördert werden.

Im Hintergrund der Ereignisse segeln Edgar Faure und Servan- Schreiber zum gleichen Ufer. Die Allianz Giscard d’Estaing, Edgar Faure, Lecanuet und Servan-Schrei- ber ist bisher nicht realisiert worden. Einige Anzeichen deuten aber auf die Möglichkeit, daß diese Männer sich vereinen könnten, die sich alle sehr liberal und europäisch gebärden.

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