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Die Sehnsucht nach einem verlorenen Paradies

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Gemessen an der Bedeutimg, die Michelangelo und damit seinem fünfhundertsten Geburtstag zukommt, hat dieses große Datum mit den zwei Nullen, die sonst unweigerlich Organisationskomitees und Verlage in Rotation versetzen, die Mühlen des Kulturbetriebes in verhältnismäßig geringem Ausmaß beschleunigt. Detailuntersuchungen standen im Vordergrund — „Michelangelo als ...“ und „Michelangelo und...“, es ist, als schrecke unsere Zeit vor dem Abenteuer einer neuen, großen Gesamtschau, eines neuen Blickwinkels, in diesem Fall zurück. Aber warum?

Was für so viele große Werke gilt, gilt für die des Michelangelo in ganz besonderem Maße: Sie erschließen sich nicht unmittelbar, nicht spontan. Wer den Deckengemälden in der Sixtinischen Kapelle oder einer der großen Skulpturen Michelangelos wohlvorbereitet erstmals gegenübertritt, erfährt kühle Zurückweisung. Dies ist also das aus hunderten Abbildungen bekannte Werk? Seltsam. Nicht das Werk, sondern die eigene Reaktion hat man sich anders vorgestellt. Kommt es vom Touristengesumm, das jeden Konzentrationsversuch zunichte macht? Kommt es vom Werk — oder von einem Manko an eigener Erlebnisfähigkeit? Aber die hat doch in anderen Fällen brav funktioniert?

Der publizistische Widerhall des kunsthistorischen Jubiläums legt die Vermutung nahe, es könnte nicht nur einzelnen, sondern einem ganzen Zeitalter angesichts Michelangelos so gehen. Es ist, als wäre Michelangelo unserer Zeit entglitten, wie Goethe und so mancher andere zur Statue seiner selbst gewordene Titan.

Aber offenbar hat nicht nur unsere Zeit Schwierigkeiten mit ihrem Michelangelo-Verhältnis. So schrieb etwa der Brockhaus des Jahres 1822 über ein malerisches Hauptwerk Michelangelos, das Jüngste Gericht in der Sixtinischen Kapelle: „Ungern ging der sechzig jährige Künstler an ein Werk, das seinem Ruhm gefährlich werden konnte. Er, der von Natur zum verschlossenen Ernst und Tiefsinn hinneigte, der unter allen Dichtern sich am liebsten durch Dantes ungeheure Gemälde begeisterte und durch ein ununterbrochenes Studium der Anatomie den verborgensten Mechanismus der Muskeln erforscht hatte, beschloß im Gefühl seiner Kraft, sich einen neuen Weg für diese Arbeit zu bahnen, und in dem Schrecklichen, in der Kraft der Umrisse, in der Kühnheit der Bewegungen es allen seinen Vorgängern zuvorzutung. So vollendete er 1541 ein Gemälde, das durchaus mißlungen in der Komposition, ohne Würde im ganzen, ohne Adel im einzelnen, abenteuerlich im Detail, zwar nicht den Schönheitssinn befriedigt, aber überall den großen und erfahrenen Künstler zeigt und mehr für den Künstlerverstand lehrreich, als genießbar für Gefühl und Geschmack des Liebhabers ist. Indem es die menschliche Gestalt in allen Wendungen, Lagen und Verkürzungen, und den Ausdruck des Staunens, des Schmerzes, der Verzweiflung in allen Abstufungen darstellt, ist es als ein unerschöpflicher Schatz von Studien zu betrachten.“

Rigoroser und verständnisloser wurde dieses Werk, eines der großen Hauptwerke der italienischen Renaissance, wohl noch nie verrissen — aber die „Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände“ war sicher auch in diesem Beitrag ein getreuer Spiegel ihrer Zeit. 120 Jahre später reger nicht die „Einzelheiten ohne Adel“, sondern die großen Züge der „durchaus mißlungenen“ Komposition Fernand Leger zu den vorbereitenden Skizzen seiner großen Komposition „Les Plongeurs“ an, die Rotation der aufsteigenden Gerechten und der herabstürzenden Verdammten findet ihre Entsprechung in der Bewegung der Figuren im Wasser.

Obwohl das bildhauerische Schaffen bei Michelangelo im Vordergrund stand, ist heute ein Gemälde, eben das Jüngste Gericht, sein bei weitem bekanntestes und populärstes Werk, abgesehen allenfalls von der Pietä im Petersdom, der kein Tourist entgeht. Wahrscheinlich hat dem Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts, auch oder vielleicht sogar gerade dem ungläubigen, unter allen Werken Michelangelos das Jüngste Gericht am meisten zu bieten, ob er will oder nicht — Offenbarung, Ärgernis, Fragezeichen. Anders als so viele seiner Skulpturen, die sich in Glätte und Monumentalität zurückziehen, tangiert dieses Alterswerk die Betrachter in seinem Innersten — Individuen und Epochen. Während sich die großen Züge der Komposition, wie die vielzitierte Kreisbewegung der aufsteigenden Toten und der absteigenden Verdammten, an Hand jeder guten Reproduktion erschließen, findet die Konfrontation im Innersten vor allem an Ort und Stelle statt, und sie muß noch stärker gewesen sein, als der Zahn der Zeit und die an der Wand scheuernden Baldachine die unteren Partien des Gemäldes noch nicht so arg mitgenommen hatten, denn während die Gestalt des Weltenrichters in ihrer sinnenhaften Körperlichkeit hoch über den Köpfen der Beschauer schwebt, sehen diese sich unmittelbar gegenüber den aus ihren Gräbern steigenden Toten und der Verzweiflung der Verdammten.

Die Abwehr des einzelnen findet ihre Entsprechung in der Abwehr einer Epoche, die „mißlungen in der Komposition“ und „ohne Adel im einzelnen“ fand, was sie nicht vertrug, was sie in der Aufklärung als Ballast der Vergangenheit für immer abgeworfen zu haben hoffte. Es ist verständlich, daß das frühe neunzehnte Jahrhundert Michelangelos Jüngstes Gericht nicht liebte. Kaum hatte sich der Zeitgeist, die „lichtvolle Renaissance“ gegen das „finstere Mittelalter“ ausspielend, in elegantem Sprung über ein Bündel von Widersprüchen hinweggesetzt, stand er auch schon wieder, in der Sixtinischen Kapelle, vor dem doppelten Ärgernis eines mittelalterlichen Todeserlebnisses, dargestellt mit den auf den Höhepunkt getriebenen malerischen Mitteln der Renaissance.

Die jüngere Wirkungsgeschichte Michelangelos liefert schwerwiegende Indizien dafür, daß unser Michelangelo-Verständnis über diesen Widerspruch — nebst einigen anderen Widersprüchen — noch immer nicht so ganz hinweggekommen ist. Michelangelo macht Schwierigkeiten, die Leonardo, der Ältere, nicht macht. Michelangelo, der zumindest auf dem Gebiet der Skulptur die Renaissance in ihrer höchsten Reinheit und Vollendung verkörpert, läßt sich nur um den Preis schwerwiegender Verkürzungen in diese seine Epoche, so wie sie uns noch immer erscheint oder wie wir sie gern sehen möchten, eingliedern. Hoch über den rechtwinkelig abgebogenen Häuptern der dichtgedrängten kunstbeflissenen Pilger jene Deckenbilder, die den Höhepunkt im Schaffen des jungen Michelangelo bilden. Aber auch schon hier, in der Erschaffung des Adam, jene seltsame Ambivalenz der Darstellung, die die kunstvoll komponierte Beziehung zwischen Gott und Mensch ebenso leicht als ein An-einander-Vorbei wie als ein Aufein-ander-Zu oder Voneinander-Weg deuten läßt.

Der alte Michelangelo hingegen steht mit seinen malerischen Mitteln noch immer mitten in der Renaissance, aber mit seinem Weltgefühl, wie es sich im Jüngsten Gericht offenbart, steht er dem des um zwanzig Jahre älteren Hieronymus Bosch vielleicht näher als dem des mit Bosch gleichaltrigen Leonardo. Michelangelo gehört der Renaissance an, Bosch dem späten Mittelalter, so sagt man zumindest, aber in einer seltsamen Umkehrung wird bei Michelangelo das emanzipierte antike Fleisch schwer und schwerer, gewinnt Erdenschwere — eine Heiterkeit und Leichtigkeit, wie sie dem sonst so höllisch dräuenden Bosch in seinem „Garten der Lüste“ gelang, hat Michelangelo niemals angestrebt.

In der Renaissance-Sehnsucht nach der Antike war viel Sehnsucht nach verlorenen Paradiesen, und auch in der Renaissance-Rezeption späterer Epochen ist viel Sehnsucht nach einem verlorenen Paradies. Diese Renaissance als eine Epoche der noch im Stande der Unschuld verweilenden Emanzipation findet in Leonardo ihren höchsten Ausdruck.

In Michelangelo hingegen finden, ebenso wie, in ganz anderer Weise, bei Hieronymus Bosch, Epochen, die den Sturz aus himmlischen Höhen erfahren haben, Vorahnungen ihrer Leiden und ihres Entsetzens. Aber Bosch illustriert, Michelangelo reflektiert. Der Schmerz, der im Jüngsten Gericht noch mit malerischen Mitteln auf der Höhe der Zeit, aber auch in den formalen Grenzen der Zeit, bewältigt wird, sprengt am Ende von Michelangelos Schaffen alle den Künstlern vor und nach Michelangelo bei seiner Darstellung auferlegten Fesseln.

In der Pietä Rondanini nahm Michelangelo, bewußt oder im Verharren in der Unfertigkeit eines neun Jahre vor seinem Tode begonnenen Werkes, bildhauerische Ausdrucksmittel vorweg, die erst im fünften Jahrhundert nach seiner Geburt entdeckt und allgemein üblich wurden. An der modernen Skulptur geschulten Sehgewohnheiten mag sich der Ausdruck dieser Pietä leichter erschließen als so manches vollendete frühe Werk. Wer will, kann aber auch schon beim reifen Michelangelo Ansätze zu einer, wenn man will, „impressionistischen“ Behandlung des Steines finden. So etwa in der unvollendeten Figur eines alten Sklaven, die für das Julius-Grabmal bestimmt war, ja selbst in den diffusen, verschwimmenden Zügen des „Giorno“ auf einem der Medici-Grabmäler in der Neuen Sakristei von San Lorenzo in Florenz.

Ausdruck, der die Perfektion überwand, Inhalt, der die Form durchbrach. Ein Vorgriff über Jahrhunderte hinweg.

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