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Die Selbstfindung einer Literatur

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Die Entwicklung verschiedener nationaler Literaturen englischer Sprache schreitet voran: nach den Autoren der USA und Australiens finden auch die Kanadier zu einem Gefühl ihrer Eigenart.

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Die Entwicklung verschiedener nationaler Literaturen englischer Sprache schreitet voran: nach den Autoren der USA und Australiens finden auch die Kanadier zu einem Gefühl ihrer Eigenart.

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Die im April 1982 vollzogene Ubergabe der Kanada betreffenden Verfassungsgesetze hat den Abschluß eines Prozesses markiert, der dem Land schrittweise die volle Souveränität gebracht hat, zugleich aber noch einmal dokumentiert, daß Kanada im Gegensatz zu den USA seine Existenz nicht einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung und dem bewaffneten Ringen um die Freiheit verdankte, sondern dem politischen Willen des britischen Parlaments.

In diesem historischen Defizit und in der in den letzten Jahrzehnten gewachsenen Spannung zwischen der anglophonen Mehrheit und der frankophonen Minderheit ist der wesentliche Grund für die anhaltende Debatte über die eigene politische und kulturelle Identität zu sehen. Diese Diskussion hat in den letzten zwei Jahrzehnten auch die Suche nach den Merkmalen einer kanadischen Nationalliteratur gefördert, die man im Schrifttum der beiden „Cultures“ nachweisen und ßeeen die übermächtigen

Einflüsse aus den USA abgrenzen möchte.

Zwei der bekanntesten Repräsentanten eines literarischen kanadischen Nationalismus nahmen kürzlich — ebenso wie fünf weitere prominente kanadische Autoren — an einem internationalen Symposium über anglo-kana-dische Literatur auf dem Tulbin-gerkogel bei Wien teil.

Die heute vielleicht bekannteste kanadische Autorin, Margaret' Atwood, hat bei ihrer Lesung freilich nicht direkt auf ihre inzwischen allgemein bekannten Thesen Bezug genommen, wonach für die kanadische Literatur der Kampf der einzelnen gegen die übermächtige Natur, aber auch gegen die feindliche Gesellschaft typisch ist.

Mit einem fiktiven Porträt ihrer Mutter und mit Beispielen von moderner Naturlyrik aus ihrem Schaffen hat sie sich jedoch wiederum als feinfühlige und scharf analysierende Vertreterin einer für feministische und ökologische Anliegen aufgeschlossenen jüngeren Generation ausgewiesen, der auch ihr Partner Graeme Gib-son zuzurechnen ist, der in seiner Erzählprosa immer wieder Tiere als Opfer menschlicher Machtbedürfnisse darstellt.

Der in Quebec als Vermittler zwischen den Kulturen tätige Ronald Sutherland dagegen hat in einem Diskussionsbeitrag seine These von den engen Parallelen zwischen der anglo- und der fran-ko-kanadischen Literatur formuliert; beide waren, so meinte er, repressiven Einflüssen ausgesetzt, wenngleich aus verschiedenen Gründen. Die volle Zustimmung der anderen Schriftsteller und der aus acht europäischen Ländern angereisten Experten vermochte er allerdings nicht zu gewinnen.

Dem Literarhistoriker ist die klassisch gewordene provokante rhetorische Frage von Sydney Smith im Jahre 1820 - „Wer denn auf der weiten Welt liest ein amerikanisches Buch?“ — natürlich geläufig und er weiß, daß sich diese Frage sehr bald darauf ein für alle Male als unberechtigt erwiesen hat. Dies gilt inzwischen längst auch für das kanadische Schrifttum, dessen Chancen einer der Fürsprecher des jungen Dominion, T. D'Arcy McGee, im Jahre 1867 noch sehr skeptisch beurteilte.

Trotz der deutlichen Verzögerung im Literaturbetrieb gegenüber den USA und trotz der zeitweilig drohenden völligen Abhängigkeit vom Buchmarkt südlich des 49. Breitengrades hat die anglo-kanadische Literatur vor allem auf dem Gebiet der erzählenden Prosa, wie schon vorher auf dem der Lyrik, längst Anschluß an das internationale Niveau gefunden. Es liegt an dem Fabuliertalent einer großen Zahl von Autoren — darunter auffallend viele Frauen —, daß die kanadische Literatur zunehmend von Verlegern diesseits und jenseits des Atlantiks ernstgenommen wird. So sind dem deutschsprachigen Leser Bücher von Margaret Atwood, Alice Munro und Robertson Davies inzwischen in Ubersetzungen zugänglich.

Gerade der weltgewandte Davies konnte bei seinen Lesungen in Wien und anläßlich des Symposiums durch sein schauspielerisches Talent, das in einer lebenslangen Beschäftigung mit der Bühne als Akteur, Regisseur und Dramatiker geformt wurde, fesseln. Seine satirisch-kritischen, tiefsinnigen und komischen Romane, die Probleme des Mythos und der Magie ausloten, gewinnen immer mehr Leser.

Unter den kanadischen Autoren, die bisher noch nie in Europa so zahlreich versammelt waren, hat neben dem souverän agierenden Robertson Davies auch der einer jüngeren Generation angehö-rige Jack Hodgins einen überzeugenden Eindrück von der humoristischen Begabung kanadischer Erzähler vermittelt. Sein Erzählwerk ist in Vancouver Island verwurzelt, das rund 3500 km von der Gegend entfernt ist, in der Davies seine Figuren mit Vorliebe ansiedelt.

Sowohl das Schaffen eines kosmopolitischen als auch das eines stark regional bestimmten Autors legen somit eine Korrektur jenes Vorurteils nahe, daß in der kanadischen Literatur meistens der Tod von Figuren in der feindlichen Umwelt beschrieben wird.

Nur der in der Welt der Prärieprovinzen beheimatete Rudy Wiebe könnte als Musterbeispiel für die Neigung kanadischer Schriftsteller gelten, das Los von Opfern und „underdogs“ der Gesellschaft darzustellen. Wiebe schöpft ja aus dem Erbe der men-nonitischen Minderheit, der er angehört und läßt der Eigenart und dem Schicksal der Indianer und der frankophonen Metis in seinen historischen Romanen Gerechtigkeit zuteil werden.

Fred Cogswell bereicherte das Treffen mit Ausführungen über das Werk des von ihm geförderten, 1980 allzufrüh verstorbenen Lyrikers Alden Nowlan. Damit kam auch die literarische Tradition der Atlantikprovinzen zur Sprache. Cogswell forderte ebenso wie mehrere europäische Literaturwissenschaftler, daß an das kanadische Schrifttum die gleichen Wertmaßstäbe angelegt werden wie an die Literaturen anderer Länder.

Die Begegnung mit den Autoren und ihrem Werk hat die Teilnehmer des internationalen Symposiums sicherlich in ihrer Ansicht , bestärkt, daß die anglo-kanadische Literatur der Gegenwart durch ihre Vielfalt und Dynamik einen solchen Test nicht zu scheuen braucht.

Der Autor ist Professor am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Wien.

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