6906915-1980_47_07.jpg
Digital In Arbeit

Die Selbsthilfe nicht zerstören!

Werbung
Werbung
Werbung

Die Grundlage einer neuen Familienpolitik könnte in einer Öffnung gegenüber Grundlagen-Diskussionen über die psychosozialen Aspekte der Familien liegen, zusätzlich zu den ökonomischen Aspekten der Familienpolitik. Aufgabe der Wissenschafter wäre es hier, den Politikern praxisorientierte Analysen nebst konkreten Handlungsalternativen zu bieten, nicht nur die großen umfassenden Berichtsbände. Als Grundlage für eine solche familienpolitische Diskussion könnten folgende Vorschläge dienen:

Stützung der Familie, damit die Familie elber Hilfe geben kann; die Ausarbeitung von Infrastrukturen zur Entlastung der Familie durch öffentliche, aber auch durch private Initiativen verschiedenster Art, wobei die Angebote nicht die Selbsthilfe zerstören dürfen. Vielfach besteht aber die andere Gefahr: daß die Selbsthilfe nicht funktionieren kann, weil sie von den Verhältnissen erdrückt oder verschlungen wird.

Allerdings stehen hierzu Forschungen aus, die derzeit vom Ludwig Boltz-mann-Institut für Soziale Gerontologie und Lebenslaufforschung in Wien angebahnt werden. Ein weiteres ist, Angebote geben, daß die inneren Änderungen und Prozesse der Problembewältigung überhaupt geleistet werden können; die Befreiung der Familienpolitik aus dem Traditionalismus ist dringend nötig, also die Berücksichtigung neuer Wertkonstellatrbnen und das Verständnis dieser.

Die Anbahnung einer breiten öffentlichen Diskussion, unter Beiziehung der verschiedensten Interessenvertretungen und Verbände, aber auch der Pädagogen, der Historiker, Sozialwissenschafter etc. empfiehlt sich. Parlamentarisches Geplänkel über den Familienbericht genügt nicht. Die Abhaltung ei' ner Enquete zu Schwerpunkten des Familienberichtes der österreichischen Bundesregierung wäre zu empfehlen. Diskussion über Prioritäten von Maßnahmen, Aufnahme von Anregungen der Verbände und Aktivierung des ständigen Beirates zur Behandlung von Maßnahmeschwerpunkten sind gefordert.

Die Herausentwicklung einiger Sozial- und Beratungsexperimente mit Modellcharakter bzw. Kontrolluntersuchungen über die Auswirkung dieser Maßnahmen wäre zu empfehlen, wobei die Studien dann für die Entscheidung über die Fortsetzung, Änderung oder das Ersetzen dieser Maßnahmen herangezogen werden können. Die Evalvie-rung der Fähigkeit der Familienberatungsstellen bezüglich ihrer tatsächlichen Wirkung ist eine weitere Aufgabe, um überhaupt das Beratungsbedürfnis näher kennenzulernen und die Grenzen, die den Beratungsstellen gesetzt sind.

Die Diskussion über alternative Lebensformen, z.B. Wohngemeinschaften und Aushilfegemeinschaften von jungen Paaren oder älteren alleinstehenden Personen - oder auch im Mischungsverhältnis - ist notwendig. Das sollte aber nicht die Tatsache verdek-ken, daß die Mehrzahl der Kinder in die „traditionelle" Form der Familie geboren werden, daß die Spannungen an diesem Ort auftreten und in sehr verschieden geglückter Weise ertragen werden.

Familienpolitik darf nicht als Bevölkerungspolitik mißverstanden werden. Trotzdem darf man die Familie, vor allem die mit mehreren Kindern, als einen wichtigen sozialen Lern- und Erziehungsort nicht übersehen. Viele Familienprobleme könnten und sollten einem viel-disziplinären Studium zugeführt werden, umsomehr, als eben jene Verbindlichkeiten, die für die bürgerliche Familie galten, nicht mehr gegeben sind.

Hilfen für die Erarbeitung von Lebensformen sind vonnöten, und zwar nicht nur hinsichtlich des Kleinkindes und zentraler Probleme der Erziehung der Heranwachsenden, sondern auch bezüglich der Ablösung und der Ablösungskrisen und der Frage der Beziehungen zu den Älteren. Die jugend-, alten- und die frauenpolitischen Probleme sollten unter familienpolitischen Perspektiven verstanden und als Anliegen anerkannt werden, die einen Dauerdiskussionsprozeß zwischen „Betroffenen" und ihren Organisationen, Politikern und Wissenschaftern rechtfertigen.

Voraussetzung ist freilich, daß seitens aller Involvierten ein Reflexionsprozeß auf das stattfindet, was uns die Wissenschaften hinsichtlich der Familie geben können und was sie uns zur Zeit noch und was sie überhaupt als Wissenschaften schuldig bleiben müssen.

Hier möchte ich den Begriff einer interpersonellen Moral und Verantwortlichkeit als konstituierend für die Weiterentwicklung - wenn auch sehr verschiedener Form - von Familie einführen. Vermutlich werden wir auch da einen Pluralismus akzeptieren müssen, weil nur durch eine moralische Orientierung der flexibel angewandten Prinzipien jene Dauer und Belastungsfähigkeit für die Familien geboten werden können, die als Kontinuität für die Heranreifung des Menschen, aber auch für . sein „Abblühen" notwendig sind.

Ressourcen für die Erneuerung interpersoneller Moral und Verantwortlichkeit liegen zweifellos in einer erfahrbaren und lebbaren Religiosität. Weniger über die Deklaration von Normen als über die Vermittlung erfahrbarer Nähe und einer neuen Tiefe von Uberzeugung von den Grundwerten können die interpersonellen Beziehungen in der Familie sowohl belastbar als auch erfüllend werden.

Univ.-Prof. Dr. Leopold Rosenmayr ist Vorstand des Instituts für Soziologie der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Der Beitrag ist die Schlußpassage eines Vortrages vor dem Katholischen Akademikerverband in Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung