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Die Seuche

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„Der Rat der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD erwartet, daß die Regierungen der Mitgliedsstaaten der Organisation ihre Bemühungen, die steigenden Verbraucherpreise noch vor Ende des Jahres 1973 wirksam bremsen zu können, fortsetzen, und, wenn nötig, in Übereinstimmung mit den Empfehlungen des wirtschaftspolitischen Komitees intensivieren.“ Dieser Kernsatz aus dem soeben erschienenen Anitainfla-tionsprogramm der OECD in Paris zeigt die dringende Notwendigkeit, gemeinsam etwas gegen den in allen westeuropäischen Staaten in der zweiten Jahreshälfte besonders stark gestiegenen Preisauftrieb zu unternehmen.

Während der durchschnittliche Preisanstieg in den europäischen OECD-Ländern im Vorjahr noch bei 6,7 Prozent (Österreich 4,7 Prozent) lag, stieg er heuer bis Oktober bereits auf 7,2 Prozent (Österreich 7,0 Prozent). Noch deutlicher ist die Entwicklung, wenn man die Indexsteigerungen dieses Jahres in zwei Teile teilt: in den sechs Monaten vor April dieses Jahres gab es eine durchschnittliche Steigerung der Preise von 4,8 Prozent, in den sechs Monaten seit April hat sich dieser Wert verdoppelt und beträgt jetzt 9,6 Prozent, der höchste Wert der in Europa seit dem Koreakrieg, Anfang der fünfziger Jahre, erreicht worden ist. Auch vor Österreich hat diese Preisbewegung nicht halt gemacht: bis April betrugen die Preissteigerungen 5,2 Prozent, seit April ist eine Steigerung um 8,8 Prozent zu verzeichnen.

Das OECD-Sekretariat fügt diesen statistischen Vergleichen noch einen interessanten Hinwe;“ rend der Anteil der Waren (außer Lebensmittel) und Dienstleistungen von 1970 auf 1971 um 6,9 Prozent in ganz Europa gestiegen war, fiel er in den zwölf Monaten bis zum Oktober dieses Jahres zwar nicht ab, lag aber mit 6,5 Prozent immerhin unter der Steigerungsrate des Vorjahres. Ganz anders hingegen der Verlauf der Lebensmittelpreise: 1971 betrug die Steigerung nur 6,4 Prozent, im Oktober lagen die Lebensmittelpreise aber bereits um 8,7 Prozent über dem Wert des Vorjahres.

Der OECD-Bericht sieht verschiedene Ursachen der plötzlich in ganz Europa rapid ansteigenden Inflationsraten: einerseits seien es sicherlich, so meint die OECD in ihrem Bericht, verschiedene zeitlich bedingte Faktoren, wie etwa eine zeitlich begrenzte Fleischknappheit, Umstände, die mit einiger Verzögerung Veränderungen des Preisniveaus bewirken könnten. Aber auch der Rückstaueffekt auslaufender Preiskontrollen, der Anstieg öffentlicher Tarife und ähnliche Probleme haben auf das allgemeine Preisniveau Auswirkungen gezeitigt.

Welche Schlußfolgerungen können nun aus dem OECD-Bericht für Österreich gezogen werden? Zunächst begrüßt die OECD die Maßnahmen, die verschiedene Staaten bereits zur Bekämpfung der Inflation in ihrem Bereich getroffen haben. Beim OECD-Sekretariat im Pariser Chäteau de la Muette nennt man in diesem Zusammenhang immer wieder Österreich, die Schweiz und Frankreich als beispielgebende Nationen. Dazu müssen aber noch weitere Maßnahmen kommen: die Ausweitung der internationalen Liquidität, also die ständige Zunahme der in Umlauf befindlichen Geldmittel müßte gebremst werden; darüber hinaus müßte eine Stabilisierung der internationalen Währungsordnung erfolgen. Jene Staaten, die noch immer eine zu expansive Wachstumspolitik betreiben, sollten diese bremsen; Preise, Gewinne und Löhne müßten in allen Staaten stabilisiert werden; durch strukturpoli-tisChe Maßnahmen sollten in allen Staaten unnütze Preis- und Lohnsteigerungen vermieden werden.

Sollten alle diese Vorschläge verwirklicht werden, so erwartet sich OECD-Generalsekretär van Lennep bereits bald erste Anzeichen eines Erfolgs: Das stetige Ansteigen der Preise sollte noch in der ersten Jahreshälfte 1973 gebremst werden können, meinte er. Ob allerdings die OECD-Vorschläge ausreichen werden, die wie eine Seuche von Land zu Land springende Inflation endgültig zum Stehen zu bringen, wird vermutlich erst die zweite Hälfte des nächsten Jahres zeigen: Denn jetzt getroffene Preismaßnahmen könnten dann wie ein Damimbruch wirken, wenn nach ihrem Auslaufen eine neue Welle der Preisfestsetzungen erfolgt.

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