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Die Sexualmoral dynamisieren

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Eines der Erfordernisse, dem sich das kirchliche Lehramt in einer Zeit ungeheurer Dynamisierung der Sexualmoral stellen muß, ist das interdisziplinäre Gespräch. Damit ist nicht nur die bloße Kenntnisnahme des Forschungsstandes in den Humanwissenschaften gemeint, sondern die Integration der einschlägigen Forschungsergebnisse in die theologische und ethische Reflexion.

Hiezu ist zu bemerken, daß es in der christlichen Tradition genügend Beispiele für gelungene Synthesen zwischen wissenschaftlichem (philosophischem) Weltbild und Theologie bzw. Ethik gibt, die sich als äußerst fruchtbar für die Entwicklung letzterer erwiesen haben. Zu denken wäre hier etwa an Thomas von Aquin,

dessen Adaption aristotelischer Philosophie für die kirchliche Lehre die Naturrechtstradition in der christlichen Ethik entscheidende Impulse verdankt.

Wie es der Theologi…ngeregt durch die Erkenntnisse der Humanwissenschafte…n jüngster Vergangenheit gelungen ist, die durch die Fixierung auf die Fortpflanzungsfunktion lange verdrängten personalen Aspekte der Sexualität aus den biblischen Quellen wieder zu entdecken, so könnte die Weiterführung des interdisziplinären Gesprächs in folgende Richtung vermutlich zu bedeutsamen Ergebnissen gerade für unsere Problematik der ethischen Beurteilung jugendlichen Sexualverhaltens führen.

In moraltheologischen Abhandlungen kann man immer wieder lesen, daß bei der sittlichen Beurteilung von vor- bzw. außerehelichem Geschlechtsverkehr zwischen jugendlicher und Erwachsenensexualität zu unterscheiden sei. Allerdings werden nur selten Kriterien angegeben, nach denen die vorehelichen Beziehungen Jugendlicher speziell zu beurteilen wären.

Zu denken wäre hier vor allem an zwei Aspekte: einerseits die anthropologische Grundkonzeption der Ganzheitlichkeit des Menschen, die die Sexualität als integrierten positiven Faktor bei der Entfaltung der Persönlichkeit begreift, dessen Kontinuität gerade einer Trennung von genitaler und nichtgenitaler Sexualität nicht gerecht werden kann (Erber 1974, S. 721), andererseits die von der Psychologie noch weiter zu erhellende Tatsache, daß sich die Sexualität des jungen Menschen noch in Entwicklung befindet, was bedeutet, daß speziell im Fall der Jugendsexualität noch mit so vielen unwägbaren Bedingtheiten zu rechnen ist, daß eine (moralische) Beurteilung mit umso größerer Vorsicht und Delikatesse zu geschehen hat.

Eine bessere Berücksichtigung sowohl desPrinzips der Ganzheitlichkeit als auch des Prinzips der Entwicklung bei der ethischen Beurteilung der Jugendsexualität würde die kirchliche Sexualmoral in die Lage versetzen, sachgerechter zu urteilen.

Das würde ganz entscheidend dazu beitragen, von einer „verbietenden zu einer ermöglichenden Moral” (Betz 1969, S. 389) zu gelangen und eine entscheidende Hilfe bei der sittlichen Beurteilung der Jugendsexualität bedeuten, gleichgültig ob man sich dem Phänomen von der Seite der Aktanalyse der traditionellen Sündenlehre oder von der Seite des ganzheitlicheren Verständnisses der Sexualität als Ausdrucksgeschehen nähert.

Für die Beurteilung der Sündhaftigkeit einer Handlung ist in der traditionellen Moraltheologie immer die Analyse dreier Komponenten notwendig: die objektive Bedeutung der Handlung (die „schwerwiegende Sache”, gravi- tas/parvitas materiae) und die beiden subjektiven Komponenten des Willens und der Einsicht.

Die Lehre von der parvitas materiae (Geringfügigkeit) im sechsten Gebot wurde in der Tradition zwar kaum auf den vorehelichen Geschlechtsverkehr angewandt, sondern der damaligen Zeit entsprechend au…us heutiger Sich…agatellfälle wie „unkeusche” Blicke, Berührungen, Umarmungen, Küsse Unverheirateter.

Trotzdem läßt sich bei der Übertragung der traditionellen Argumentation auf unsere heutige geschichtliche Situation die Frage nach der parvitas materiae im sechsten Gebot, vor allem wenn humanwissenschaftliche Erkenntnisse und pädagogische Erfahrung in entsprechender Weise einbezogen werden, zumin- deist für den Bereich der jugendlichen Sexualität ernsthaft diskutieren.

So würde sich für die Moraltheologie bzw. das kirchliche Lehramt die Chance eröffnen, im Gespräch mit den Humanwissenschaften eine bisher vielfach sehr unbefriedigend gelöste Problematik aufzuarbeiten, ohne sich von den traditionellen Kategorien und Argümentationsweisen allzu weit entfernen zu müssen.

Eine personal-kommunikative Konzeption der Sexualethik könnte sich für die Beurteilung der Jugendsexualität vom Gespräch mit den Wissenschaften gleichfalls befruchtende und konstruktive Impulse erwarten. Auch hier sind noch viele Fragen offen, z. B. die Semantik körperlichen Ausdrucks als Vorfrage zu ethischen Überlegungen darüber; die Frage nach dem Verhältnis von Vorläufigkeit und Endgültigkeit in den personalen Kommunikationsversuchen noch nicht voll entwickelter Persönlichkeiten; die Frage, was es bedeutet, daß auch diese Art der „Sprache” in einem integrierten Entwicklungs- und Lernprozeß erst allmählich zum tauglichen menschlich-personalen Kommunikationsmittel wird; ob es dabei auch Versuch und Irrtum geben muß usw.

Hier wäre die Möglichkeit gegeben, ohne in die platte Polemik über Notwendigkeit bzw. Unmenschlichkeit des .Ausprobierens” personaler Begegnung zu verfallen, über Funktion und Be- deutuhg der verschiedenen Formen vor-ehelicher Sexualität für das Hineinwachsen in die reife Geschlechtlichkeit zu reflektieren, um so aus dem Integrationswert dieser „Vorformen” geschlechtlicher Existenz für die Reifung der sittlichen Persönlichkeit einen Maßstab für die ethische Bewertung der verschiedenen Äußerungen des vorehelichen jugendlichen Sexuallebens zu gewinnen.

Hier ist dann auch der Ort, all die Argumente einzubringen und ernsthaft zu prüfen, die für und gegen die Liberalisierung der (kirchlichen) Stellungnahme zum vorehelichen Geschlechtsverkehr Jugendlicher vorgebracht werden, vo…m nur zwei gegensätzliche Beispiele zu nenne…er Gefahr einer Fixierung bei der Partnerwahl bzw. beim Heiratsentschluß durch zu früh eingegangene emotionale Bindungen bzw. sexuelle Verpflichtungen (vgl. z. B. Belistein 1969, S. 405; Rotter 1979, S. 89) bis hin zur Beobachtung von Eheberatern, daß es zu außerehelichen Abenteuern von gefährlichem Charakter für den Bestand der Ehe häufiger bei Ehepaaren kommt, die keine vorehelichen sexuellen Erfahrungen gemacht haben (Lemaire 1974, S. 739).

Der Autor ist Moraltheologe in Innsbruck. Dieser Beitrag ist ein Auszug aus einem Beitrag zum Symposium „Sexualität und menschliche Entwicklung”, das am 1. Oktober von der Katholischen Akademie veranstaltet worden ist.

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